Was Mut zur Entscheidung mit dem Sündenfall zu tun hat.

Ich lese gerade Thomas Härrys Buch „Von der Kunst sich selbst zu führen“ und bin wirklich begeistert davon. Denn dieses Buch ist anders. Es reiht sich eben nicht ein in den Reigen der klassischen Ratgeberliteratur, die in ständig neuer Form das Schema „Tue A, dann wird ganz gewiss B passieren“  präsentiert, sondern zutiefst auf Gott ausgerichtet ist, und uns hinführen möchte zu einem Lebensstil, der unserer ursprünglichen Berufung als Menschheit und als Individuum entspricht.

Im Kapitel vier spricht der Autor einen extrem spannenden Punkt an. Einen, an dem es besonders für Christen immer wieder schwierig wird und weh tut. Nämlich, wenn wir vor Entscheidungen stehen, bei denen überhaupt nicht klar ist, welche der vorhandenen Möglichkeiten jetzt wirklich „richtig“ oder „falsch“ sind, oder, noch schlimmer, wenn wir vor zwei Möglichkeiten stehen, wo uns klar ist, dass beide im Grunde falsch sind, und uns eben keine dritte Möglichkeit zur Verfügung steht, um diesem Dilemma zu entkommen. Warum gerade für uns Christen? Ich erlebe es auch bei mir selbst immer wieder so, dass ich – zumindest in wichtigeren Entscheidungen – mir eine gewisse Sicherheit wünsche. Die Sicherheit, eine Entscheidung zu treffen, die möglichst Gottes Willen entspricht, wo ich nicht „irgendwie“ handle, sondern nach seiner Führung. Und diese Haltung kann das Leben mitunter ziemlich anstrengend machen. Wir wollen uns nicht „versündigen“. Wir wollen „richtig“ handeln. Wir wollen Gott gehorsam sein. Nur: Was ist „richtig“? Was ist „falsch“? Und woher können wir wissen, dass unser persönliches Urteil darüber Gottes Sicht der Dinge entspricht? Oft genug im Leben können wir das nicht eindeutig sagen. Immer wieder auch in großen und wichtigen Entscheidungen. Wir wägen ab. Wir beten. Wir beraten uns. Aber Sicherheit haben wir am Ende immer wieder trotzdem keine. Aber selbst wenn wir sie haben – wem ist es noch nie passiert, dass er oder sie dann im Nachhinein draufgekommen ist, dass diese Entscheidung leider nicht so gut war?

Thomas Härry bringt das Beispiel einer Frau, die in einer schlechten Ehe steht, weil ihr Mann sie in vielen Bereichen so schlecht behandelt, dass bereits ihre seelische und über die Seele auch ihre körperliche Gesundheit angegriffen ist. Was also tun? Den Mann verlassen, und damit die Ehe beenden, um der eigenen Gesundheit willen, und weil der Mann  seinen Teil des Eheversprechens nicht eingehalten hat? Schwierig. Jesus sagte leider etwas äußerst unerfreuliches in dem Zusammenhang: Er sagt, dass eine Ehe unauflöslich ist. Nur, was ist mit der Frau? Soll sie deswegen in einer Ehe bleiben, an der sie über kurz oder lang zerbricht? Was ist „richtig“? Was ist „falsch“? Denn nein, mit postmoderner Befindlichkeit kommen wir hier nicht weiter. Gott ist nicht postmodern nach dem Motto: „Tu, was du fühlst, denn das ist richtig“. Gott macht klare Ansagen. Er sagt immer wieder: So! Und so nicht! Damit haben wir heutzutage unsere liebe Not, aber das ist vor allem unser Problem, und nicht Gottes Problem. Leider schreibt Gott die Bibel nicht für uns um, damit sie uns weniger Mühe macht.

Bonhoeffer schreibt in diesem Zusammenhang etwas ziemlich provozierendes. Er schreibt sinngemäß:

Unser Anspruch, zweifelsfrei zwischen Gut und Böse unterscheiden wollen, ist unsere eigentliche und größte Sünde. Wer meint, Gut und Böse zweifelsfrei unterscheiden zu können, macht sich zum Richter. Auch über andere Menschen, denn er weiß ja stets genau, was andere richtig und falsch machen. Bonhoeffer bezeichnet das als die eigentliche Verfehlung der Pharisäer zur Zeit Jesu: Sie beanspruchten den Durchblick und beurteilten sich und ihre Mitmenschen durch ihr Raster von Richtig und Falsch. Damit taten sie aber, was nur Gott darf: Über den Menschen (und damit sich selbst) ein Urteil fällen.

Was ist der Ausweg aus diesem Dilemma?

Bonhoeffer stand vor einer extremen Entscheidung. Er sah sich mit den Greueln des Hitler-Regimes konfrontiert. Er sah, welche furchtbaren Verbrechen durch Hitler und seine Gefolgsleute geschahen. Er musste für sich eine Entscheidung treffen, wie er damit umgeht. Die Möglichkeiten waren alle fatal: Zu Schweigen und Durchzutauchen hätte bedeutet sich mitschuldig zu machen. Gewaltfreier Widerstand hätte ihn das Leben gekostet und an den Zuständen nichts geändert. Und ein Komplott gegen Hitler wäre ein klarer Verstoß gegen das 5. Gebot, das – so sehr uns das schmerzen mag – leider auch in solchen Fällen keine Ausnahme macht. Bonhoeffer entschied sich, sich den Verschwörern gegen Hitler rund um Stauffenberg anzuschließen und sie so weit es ihm möglich war zu unterstützen. Er tat dies nicht, weil er der Meinung war, Gott würde für ihn in Sachen 5. Gebot eine Ausnahme machen. Ihm war klar, dass er damit gegen dieses Gebot verstieß. Ihm war klar, dass er damit gegen das Gebot der Feindesliebe verstieß. In Anbetracht der Möglichkeiten die er hatte, schien ihm das von allen schlechten Möglichkeiten jene zu sein, die er mit seinem Gewissen noch am ehesten vereinbaren konnte.

War diese Entscheidung „richtig“? War sie „falsch“? Darüber wurde schon zu Lebzeiten Bonhoeffers diskutiert, und immer wieder heftig. Leider geht dieser Frage aber völlig am eigentlichen Thema vorbei. Das nämlich ein ganz anderes ist:

Bonheoffer hat die Möglichkeiten gesehen. Er wusste, dass es für ihn keine „richtige“ Möglichkeit gab. Also hat er alle Optionen für sich abgewogen, und am Ende eine Entscheidung getroffen. Und das ist der Knackpunkt. Er hat, obwohl er wusste, dass er, egal was er tat, auf irgendeine Weise immer „falsch“ handeln würde, den Mut aufgebracht, trotzdem eine Entscheidung zu treffen. Er schrieb dazu folgendes:

Wer in Verantwortung Schuld auf sich nimmt – und kein Verantwortlicher kann dem entgehen – der rechnet sich selbst und keinem anderen diese Schuld zu und steht für sie ein, verantwortet sie. Er tut es nicht in dem frevelnden Übermut seiner Macht, sondern in der Erkenntis, zu dieser Freiheit genötigt und in ihr auf Gnade angewiesen zu sein.

Was meint er damit: Wenn wir nicht wissen, was tatschlich „richtig“ oder „falsch“ ist, bleibt es uns trotzdem nicht erspart, eine Entscheidung zu treffen. Irgendwann kommen wir an den Punkt, wo wir keine Sicherheit mehr haben. Wo wir vielleicht meinen, von Gott gehört haben, aber uns trotzdem niemand garantieren kann, ob das, was wir gehört haben, tatsächlich Gottes Stimme war. Bonhoeffer will uns ermutigen, uns dieser Spannung zu stellen und ihr nicht auszuweichen. Er will uns ermutigen, für uns nicht zu tragende Bürden abzuwerfen, den uns lähmenden Wunsch nach Sicherheit hinter uns zu lassen, und den Mut zu finden, Entscheidungen zu treffen. Gott ist kein unbarmherziger Gott, der uns beinhart auf die Finger klopfen wird, wenn wir etwas „falsch“ machen. Gott kennt unsere Schwäche, Unvollkommenheit, Ängste und Sorgen. Er ist – im Gegensatz zu uns – Realist: Er weiß, dass wir im Grunde niemals imstande sind, „richtig“ zu entscheiden. Er weiß, dass wir ganz und gar auf Seine Gnade angewiesen sind. Er will uns ermutigen, diese Gnade auch in Anspruch zu nehmen. Nicht leichtfertig. Aber trotzdem. Wir können, wir dürfen und wir sollen den Mut aufbringen, uns zu entscheiden. Wir können, wir dürfen und wir sollen etwas riskieren. Im Bewusstsein, dass wir uns dabei möglicherweise falsch entscheiden. Im Bewusstsein, dass wir es nicht wissen. Aber auch im Bewusstsein, dass wir in allem unserem Tun immer und überall auf Gottes Gnade angewiesen sind, weil wir niemals die 100% bringen werden können, die das Gesetz von uns fordert.

Ich habe rückblickend gesehen viele falsche Entscheidungen getroffen. Manche davon haarsträubend falsch. Aber irgendwann kam ich mit mir selbst ins Reine. Weil ich irgendwann begriffen habe: Ich habe immer nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Oft fehlte es an Wissen, immer wieder auch an Gewissen. Nur: Was nützt es mir, wenn ich im Nachhinein klüger bin? Ungeschehen kann ich damit nichts machen. Trotzdem weiß ich, dass Gottes Gnade größer ist als der größte Fehler, den ich je in meinem Leben gemacht habe. Ja, ich musste immer wieder die Konsequenzen tragen. Das war nicht immer schön. Aber ich habe auch gelernt, mich nicht zu beklagen. Sondern meinen Teil der Verantwortung zu erkennen, ihn vor Gott zu bringen, ihn um Vergebung bitten, wenn möglich und nötig Menschen um Vergebung zu bitten, und darauf zu vertrauen, dass er mich dafür nicht verurteilt und mir nichts nachtragen wird.

Ich hoffe und wünsche mir, dass es uns allen gelingt, diesen Mut zur Entscheidung aufzubringen. Dass wir aufhören, jenem ungesunden Denken zu folgen, dass uns weismachen will, dass Gott uns – wenn wir nur „heilig“, „geistlich“, „demütig“ (christliches Schlagwort der Wahl hier einsetzen) … genug sind, immer antworten wird. Oder umgekehrt: Dass wir nicht in den Irrtum der Pharisäer verfallen und glauben, wir hätten die Antwort und wüssten es. Immer. Und unter allen Umständen. Das ist tödlicher Stolz, der am Ende auf uns selbst zurückfällt und uns selbst das Genick brechen kann und auch wird, wenn wir ihn nicht als solchen erkennen und umdenken.

Thomas Härry schreibt:

In vielen kleinen und größeren Entscheidungen unseres Lebens finden wir keine letzte und absolut gesicherte Klarheit über Gottes spezifischen Willen, selbst wenn wir darum beten und mit Eingebungen des Heiligen Geistes rechnen. Doch dieser Umstand sollte nicht dazu führen, dass wir nichts tun. Wir bejahen unser Mandat, unser Leben zu gestalten, auch in den Grauzonen. Wir beten, klären, hören – und dann kommt der Moment, wo wir auch ohne letzte Klarheit und Gewissheit in der Tasche eine mutige Entscheidung fällen. Wir handeln. Und verantworten vor dem lebendigen Gott die Konsequenzen dieses Handelns. Vertrauen uns seiner Gnade an, die uns durch unsere Irrtümer und Missverständnisse trägt.

Es gibt keine verantwortlich wahrgenommene Selbstführung ohne die Bereitschaft zu dieser tiefen Abhängigkeit von Gottes abschließendem Urteil über unser Tun. Das wiederum bedeutet: Wir werden es nicht wagen, in heiklen Situationen verantwortlich zu handeln, solange unser Herz sich nicht auf dem Boden der Liebe, Treue und Gnade Gottes abstützt. Sich selbst gut führen kann nur, wer sich darin ganz und gar auf Gott wirft.

Dem möchte ich nichts mehr hinzufügen.