Wir gedenken also 80 Jahren Anschluss an Hitlerdeutschland. Und auch ich stelle mir die Frage, warum uns dieses Ereignis, 80 Jahre später, immer noch so sehr beschäftigt. Warum ist das Hauptthema des heurigen Jahres 1938 und nicht dem Jubiläum 100 Jahre Republik Österreich? Ein Schlüssel für mich liegt in der Figur von Franz Murer, dem der Spiegel schon 1967 eine Geschichte widmete und dessen Leben gerade aktuell verfilmt wurde. 1974 wurde das Verfahren gegen Franz Murer endgültig eingestellt, die Gerichtsakten zum Fall sind nicht mehr auffindbar. Franz Murer steht sinnbildlich für den Umgang Österreichs mit der NS-Zeit nach dem Krieg. Er war einer von vielen, die nicht nur vom System profitierten, sondern auch aktiv daran beteiligt waren. Der Justizskandal um ihn zeigt, dass man nicht einmal davor zurückschreckte, ein unfassbares Gerichtsurteil zu erwirken, nur um den eigenen Opfermythos nicht in Frage stellen zu müssen. Der Fall Gross ist ein anderes Beispiel für den katastrophalen Umgang mit den Tätern dieser Zeit.

Wenn wir also an 1938 denken, dann denken wir eigentlich an etwas anderes: An das Österreich der Nachkriegszeit. Ja, es kommen wieder einmal Zeitzeugenberichte ans Licht, die sehr anschaulich darlegten, wie es damals ablief – und die zeigen, wie viele Menschen tatsächlich schon mit den Nazis sympathisiserten. Wobei man auch sehen muss, wie verhasst das Schuschnigg-Regime in weiten Teilen der Bevölkerung war. Mein Vater erzählte mir aus dieser Zeit, wie sehr die Polizei zum Büttel des Systems geworden war, und man  immer damit rechnen musste, in Schwierigkeiten zu geraten wenn man auf der Gasse einem Polizisten begegnete. Dass die Christdemokratie damals so voller Hass auf die Sozialdemoraten war, dass sie diese Leute genauso einsperrte wie die sehr real kriminellen und gewalttätigen Nazis, wirkt bis heute nach. Wie lange verdeutlichte Andreas Khols Sager von den „roten Gfriesern“, und seine Freude darüber, die endlich nicht mehr so oft im Fernsehen sehen zu müssen – 62 Jahre nach dem Ende des Austrofaschismus. Der damalige Hass auf Schuschnigg und sein faschistisches Regime macht die damalige Stimmung besser verständlich – Entschuldigung ist er aber trotzdem keine.

Aber zurück zur Nachkriegszeit: Da hatte sich Österreich wunderbar durchlaviert. Vergessen war 1938, vergessen war die große Zahl illegaler Nazis, die nach dem Anschluss blitzartig die Kontrolle übernahmen, vergessen die vielen Österreicher, die zum Teil in hohen Positionen an der Unrechts- und Vernichtungsmaschinerie der Nazis mitwirkten. Plötzlich war man „Opfer“. Und als solches fein raus, weil man sich so der Mitverantwortung offiziell nicht stellen musste. Aus meiner Sicht sind es genau diese Leichen im Keller der österreichischen Geschichte, die dazu geführt haben, dass sich die Aufarbeitung dieser Zeit bis heute dahinzieht. Das wirklich Beschämende geschah nämlich nach dem Krieg. Als geraubtes Vermögen nicht zurückgegeben wurde. Als den Rückkehrern das Leben schwer gemacht wurde. Als man Vertriebenen sehr klar vermittelte, dass man sie nicht zurück haben will und Österreich auf diesem Weg seine Bildungselite verlor. Als die Restitutionsverfahren mit miesen Tricks endlos in die Länge gezogen wurden in der Hoffnung, dass sich dieses Problem auf „biologischem Wege“ erledigen wird – eine Rechnung, die Gott sei Dank nicht aufging. Und schließlich der unselige Fall Waldheim, für den wir zutiefst dankbar sein müssen, weil er uns endlich dazu zwang, den Opfermythos über Bord zu werfen. Es hat bis 1991 gedauert, bis ein österreichischer Regierungsschef sich offiziell für Österreichs Täterschaft und die von Österreichern begangenen  Verbrechen im 2. Weltkrieg entschuldigte. Und bis heute gibt es im rechten Lager jene Stimmen, die diese Verantwortung leugnen, relativieren, und einfordern, dass „endlich eine Ruhe sein muss“. Die hätten wir längst, wenn Österreich sich nach dem Krieg gegenüber den Opfern nicht dermaßen schäbig verhalten hätte.

In diesem Sinne halte ich das Gedenken an 1938 für wichtig und notwendig. Weil wir nach wie vor etwas aufzuarbeiten haben. Nicht nur das, was Österreicher während des Krieges taten. Sondern auch, wie wir nach dem Krieg mit dieser Mitverantwortung umgegangen wurde. Erst wenn dieser Teil unseres Erbe bewältigt ist, wird wirklich Ruhe sein.