Schädlicher Relativismus oder doch gesunder Realismus?

Wenn wir über Gott sprechen, dann sprechen wir über jemanden, der für uns mit unseren normalen Sinnen nicht wahrnehmbar ist. Und wir sprechen über jemanden, der die Grenzen unseres Verstandes hoffnungslos sprengt. Gott ist zu groß und zu anders als dass wir als zerbrochene Menschen ihn wirklich erfassen und verstehen könnten. Wie sollen wir also damit umgehen?

Ich habe aufgehört zu sagen „Gott ist … so“. Oder „Die Bibel sagt …. das“. Wenn ich ehrlich und realistisch bin, dann kann ich nicht anders über Gott und die Bibel sprechen. Nicht, weil Gott und die Bibel relativ sind. Also nicht deswegen, weil ich mir Gott so zurechtzimmern kann wie es mir passt. Das stimmt nicht. Gott ist ein sehr konkretes Wesen. Er beschreibt sich in der Bibel auf sehr vielfältige Art und Weise. Das Problem dabei ist: Uns erscheint das immer wieder widersprüchlich. Gottes Zorn und Gottes Liebe erscheinen uns beispielsweise unvereinbar. Weil wir nur unseren zerbrochene Blick auf diese beiden Dinge haben, weil wir nur den menschlichen Zugang und Umgang mit diesen beiden Emotionen kennen, und es für uns aus dieser Perspektive heraus schwer oder gar nicht verständlich ist, wie jemand beides sein kann, ohne böse oder schizophren zu sein. Und das ist für mich nur ein Beispiel von vielen. 

Gott sagt: „So hoch der Himmel über der Erde ist, so viel größer sind meine Gedanken als eure“. Damit will  Gott uns nicht demütigen und klein machen. Sondern uns helfen, ihn besser zu verstehen. Dazu gehört zu begreifen, dass er für uns nur in Bruchstücken erfassbar ist. So wie Paulus in 1. Korinther 13 – interessanterweise im Anschluss an das berühmte „Hohelied der Liebe“ – schreibt: Alle unsere Erkenntnis ist bruchstückhaft.
Deswegen sage ich heute: „Ich verstehe Gott …. so“. Oder „ich verstehe die Bibel … so“. Relativiere ich damit Gott oder sein Wort? Natürlich nicht. Was ich damit relativiere ist meine Fähigkeit, Gott zu verstehen und die Bibel wirklich zu begreifen. Ich bin zutiefst überzeugt davon, dass Gott und seine Wahrheit absolut und endgültig sind. Für mich ist Gott selbst das Absolute und Endgültige, über ihm, neben ihn, um ihn gibt es nichts, was ihm auch nur annähernd gleich kommt. Seine Wahrheit ist unendlich gut, schön, und richtig. An ihm muss sich alles messen, was existiert, weil Er es geschaffen hat, und ohne ihn nichts existieren würde, was ist. Was begrenzt ist, und was ich immer wieder als schmerzliche Grenze empfinde, ist meine Fähigkeit, diesen unendlich guten, schönen und wahrhaftigen Gott zu begreifen.

Ja, Gott hat uns die Bibel gegeben, in der er durch Menschen über viele Jahrhunderte niederschreiben hat lassen, wer und wie er ist. Ja, Gott hat uns seine Geist gegeben, der uns das alles aufschließt, sodass wir beginnen können, das was dort niedergeschrieben wurde so zu versehen, wie es von Gott gemeint ist. Dabei sind wir aber immer mit unserer Begrenztheit und Zerbrochenheit konfrontiert. Unser Blick wird – so lange wir hier auf dieser Welt leben – immer getrübt sein. Sagt Paulus, nicht ich. Also sollte ich das anerkennen. Wir alle haben unsere Lebensgeschichte, die uns geformt hat. Wir sind eingebettet in diese heutige postmoderne Zeit und in diese westliche Gesellschaft. All diese Dinge prägen unser Denken und unser Verständnis von der Wirklichkeit. Deswegen ist für mich die Aussage „Ich verstehe Gott … so“ und „Ich verstehe die Bibel … so“ eben nicht postmoderner Relativismus, der keine absoluten Dinge akzeptieren will, sondern schlicht und ergreifend ehrlich.

Ich befürchte, dass hinter einigen absoluten Aussagen von Menschen darüber, wie Gott ist und was die Bibel sagt, weniger Treue und Hingabe, als Unsicherheit und Stolz stehen. Wobei diese Art von Stolz oft ein Kind der Angst und Unsicherheit ist um sie zu überdecken. Wenn ich in meinem Innersten weiß, dass Gott mich hält und trägt, und dass er nicht nur mich, sondern alle Dinge in seiner Hand hält, und dass er weit über den Dingen steht, dann muss ich ihn nicht mehr verteidigen. Dann muss ich nicht mehr sagen: „In der Bibel steht und Punkt und keine Diskussion!“ Wer bin ich, dass ich als begrenzter, unvollkommener Mensch so etwas sage? Denn auch unter Christen gibt es abweichende Meinungen darüber, wie Gott ist und wie er handelt und wirkt. Das ist ein Problem. Aber nur dann, wenn ich meine persönliche Sichtweise verabsolutiere. Wenn ich sage: „Gott ist … !“ und „Die Bibel sagt … !“, dann verabsolutiere ich nicht Gott, sondern meine persönliche Sicht auf ihn. Dann sage ich im Grunde: Ich habe Gott verstanden, und „ihr“ (wer auch immer das sein mag) nicht. 

Ja, als Christen sind wir uns in den ganz zentralen Punkten unserer Überzeugung einig. Wir sind uns einig darin, dass Gott der Urheber von allem ist. Wir sind uns einig darin, dass er ewig und unendlich ist, was im Grunde nur heißt, dass er außerhalb von Raum und Zeit wie wir sie kennen steht. Wir sind uns darin einig, dass Gott gut ist. Wir sind uns einig darin, dass wir als Menschen nicht gut sind und Heilung, Befreiung und Wiederherstellung durch Ihn brauchen. Weil wir die enge Beziehung zu ihm zerstört haben indem wir ihm das Vertrauen aufgekündigt und uns entschieden haben, unser Leben unabhängig von ihm zu führen. Das ist das, was man in christlicher Fachsprache den Sündenfall nennt. Das hat uns das Genick gebrochen und das Böse in die Welt gebracht, weil wir im Grunde ohne Gott nicht existieren können. Er ist die Quelle von allem, was wir als Menschen brauchen. Das, wonach sich unser Innerstes sehnt, werden wir nur in Gott und sonst nirgends finden können. Alles andere mag ähnlich aussehen und sich ähnlich anfühlen, wird uns aber niemals das selbe bieten können. Als Christen sind wir uns auch darüber einig, wer Jesus ist und dass wir nur durch Ihn wieder zurückkehren können in diese enge Beziehung zu Gott, für die wir eigentlich gebaut sind und ohne die wir niemals so funktionieren können wie Gott uns gedacht hat. Das waren und sind für Christen aller Zeiten und auf aller Welt die unverrückbaren Dinge.

Die Schwierigkeiten fangen dort an, wo es darum geht, wie das jetzt genau ist, und was das für unser Leben hier und heute bedeutet. Dort fangen die Diskussionen und leider auch die Streitereien an. Jörg Zink schreibt in „Die goldene Schnur“ sinngemäß: Es ist kein Widerspruch zu sagen dass, Gott unendlich nah und unendlich fern ist. Weil Gott in Wirklichkeit beides ist. Gott ist zu groß um ihn in ein Korsett menschengemachter Konfessionen zu stecken. Was wir brauchen würden ist nicht ein Gegeneinander der christlichen Kirchen und Konfessionen, sondern ein Miteinander, weil sich in jeder Gruppe und jeder Konfession gute und wertvolle Wahrheiten über Gott finden, die erst im Zusammenspiel das größere Ganze ergeben können. 

Aus meiner freikirchlichen Perspektive heraus kann die Frage nicht lauten „Charismatisch oder Evangelikal“ – oder, auf die großen Kirchen umgelegt: Evangelisch oder Katholisch – oder Orthodox. Die viel wichtigere Frage ist doch, wie wir voneinander lernen und einander in gegenseitigem Respekt bereichern können, ohne so zu werden wie die „anderen“. Paulus spricht sich am Beispiel des Fleisches, das damals für heidnische Götter geopfert wurde, weder für einen Kompromiss zwischen unterschiedlichen Standpunkten aus, noch sagt er, dass der eine „richtig“ und der andere „falsch“ ist. Der Weg den er aufzeigt, ist ein ganz anderer: Folge deinem Gewissen, verurteile diejenigen, die es anders halten als du nicht, sondern respektiere es, wenn sie zu anderen Gewissensentscheidungen gekommen sind. Uns mag die Frage nach dem Umgang mit Opferfleisch seltsam erscheinen, für die damaligen Christen war das absolut keine Kleinigkeit sondern die Frage, inwieweit es für einen Christen möglich oder zulässig ist, sich dem Einfluss heidnischer und aus christlicher Sicht strikt abzulehnender spiritueller Rituale auszusetzen.

Ich bin dankbar für die Offenheit für das „Andere“, das ich heute unter Christen erlebe. Ich bin zutiefst dankbar sehen zu dürfen, wie Menschen aus Gruppen, die sich vor 30 Jahren gegenseitig die Rechtgläubigkeit abgesprochen haben, heute gemeinsam für Jesus gehen. Da wird für mich ein Stück Himmel Realität. Und so kann auch nach außen sichtbar werden, dass dieser Jesus mehr ist als ein guter Mensch der vor langer Zeit gelebt und weise Dinge von sich gegeben hat. Für mich zeigt sich darin die Kraft von der Botschaft von Jesus, und dass dahinter mehr steckt als menschliche Weisheit. Ja, es gibt für mich als Christen einen gesunden Relativismus. Einen Relativismus, der sich nicht auf Gott, sondern auf meine persönliche Erkenntnisfähigkeit bezieht und es offen lassen kann, dass andere Gott in einigen Punkten sehr wahrscheinlich besser erkannt und verstanden haben als ich selbst.