Vor einigen Monaten war ich von mehreren Seiten mit einem Thema konfrontiert, wie es in dieser Intensität schon lange nicht mehr der Fall war. Es ging um die Frage, wie wir uns als Christen im Gottesdienst kleiden sollten, was wir damit ausdrücken, und damit verbunden natürlich mein Vorbild als Leiter einer Kirche. Konkret ging es darum, dass ich als Leiter, wenn ich predige, doch bitte korrekter gekleidet sein sollte. Weil ich ja etwas repräsentiere. Also als Mann lange Hose, geschlossene Schuhe, eher kein T-Shirt. Für Frauen dem entsprechend Rock oder Kleid mindestens knielang und natürlich kein tiefer Ausschnitt – dafür sind bei Frauen offene Schuhe ok.
Das sind völlig legitime Wünsche, die ich achte und respektiere. Auch und gerade weil sie nicht meinem persönlichen Lebens- und Glaubensstil entsprechen. Gott ist ein Gott der Vielfalt, und in der Vielfalt darin, wie wir unsere Beziehung zu Gott leben, wird für mich auf wunderschöne Weise die unendliche Vielschichtigkeit von Gottes Wesen und Charakter sichtbar.
Was mich in diesen Gesprächen getroffen hat, war nicht der Wunsch danach, dass Menschen ihren Respekt Gott gegenüber durch „schöne“ oder „feierliche“ Kleidung ausdrücken. Jeder Mensch, dem das ein Herzensanliegen ist, soll das bitte tun, und ich werde der erste sein, der diese Haltung in Schutz nimmt und verteidigt, weil es nicht angeht, dass wir andere Menschen für ihr Verhalten verurteilen, nur weil es uns fremd ist und nicht unserem persönlichen Lebensstil entspricht. Ob ich das genauso sehe oder nicht ist in diesem Zusammenhang völlig bedeutungslos, weil es in dieser Frage nicht um mein persönliches Empfinden geht. Es geht um die zentrale Frage, ob wir Menschen die Freiheit geben, ihre Beziehung zu Gott so zu leben, wie es ihrer von Gott gegebenen Herzenshaltung entspricht, oder ob wir von den Menschen in unserem Umfeld erwarten, dass sie sich in die (meistens nicht sehr große) Box unserer persönlichen Ansichten und Wertvorstellungen sperren lassen, nur damit wir selbst uns besser fühlen.
Und genau das war es, was ich in diesen Gesprächen gespürt habe und womit ich ich in der Form schon lange nicht mehr konfrontiert war: Es war die Überzeugung, dass Freizeitkleidung im Gottesdienst irgendwie eine „Freizeithaltung“ Gott gegenüber ausdrückt. Soll heißen: Wer in Freizeitkleidung im Gottesdienst erscheint, dessen Haltung Gott gegenüber ist zumindest einmal zu hinterfragen. Weil, wem es „wurscht“ ist, wie er im Gottesdienst erscheint, dem ist dann wohl auch Gott „wurscht“, weil anderenfalls würde er sich schließlich nicht „so“ anziehen, wenn wir im Gottesdienst dem Herrn der Herren und dem König der Könige begegnen.
Autsch!
Nein, nicht deswegen, weil ich mich dabei ertappt gefühlt habe, dass ich bei der einen oder anderen Predigt zu wenig formell gekleidet war. Sondern weil wir mit dieser Aussage mitten im Richten und Verurteilen anderer gelandet sind. Wenn ich glaube, dass Menschen, die sich im Gottesdienst nicht formell kleiden, ein problematisches Gottesbild haben, dann glaube ich in Wirklichkeit: Mein persönlicher Glaubensstil ist richtig. Und zwar nicht deswegen, weil ich es „einfach so“ sage, sondern weil ich bewusst nicht „irgendwie“ lebe, sondern mich mit der Bibel beschäftigt habe, darüber nachgedacht und gebetet habe, mich ernsthaft bemühe, Gott so nachzufolgen, wie er sich das wünscht, und deswegen zu diesem Schluss gekommen bin.
Das heißt gleichzeitig auch, dass alle anderen, die das nicht so sehen, sich offensichtlich nicht genügend ernsthaft mit der Thematik auseinandergesetzt haben, denn schließlich lesen wir alle die selbe Bibel, haben alle den selben Geist Gottes, also müssten wir doch eigentlich – genügend Ernsthaftigkeit vorausgesetzt – alle zu dem selben Ergebnis kommen. Oder etwa nicht?
Was sagt eigentlich die Bibel zu dem Thema?
Einiges, denn die Frage nach dem „wirklich gottgefälligen“ Lebensstil ist noch viel älter als die Christenheit. Damit haben sich schon die jüdischen Lehrer viele Jahrhunderte vor Jesus beschäftigt, und genau so sind die Pharisäer entstanden, deren Anliegen es war, das ihrem Volk von Gott gegebene Gesetz so genau wie möglich einzuhalten, und die daher lieber drei Grenzen zu viel einzogen als eine zu wenig.
In den ersten christlichen Kirchen war der Umgang mit Fleisch, das aus Opferungen in den damals dominierenden Tempelkulten stammte, ein ziemlich heißes Eisen. Mehrere Leute haben mir erklärt, dass damals das meiste Fleisch, das es zu kaufen gab, aus solchen Ritualen kam. Und ich kann nur immer wieder betonen, dass es bei diesem uns im Westen heute fremdartig erscheinenden Thema nicht um eine Kleinigkeit, sondern um die ganz entscheidende Frage ging, ob und wie sich die Nachfolger von Jesus damit wieder in jene Kulte verstricken, von denen sie gerade erst frei geworden waren.
Das Problem bei den Aussagen im Neuen Testament zu diesem Thema ist, dass Paulus sich jenem menschlichen Denken, das unbedingt in „richtig“ und „falsch“ einteilen will, um sich leichter zurecht zu finden, konsequent verweigert. Und das ist für uns, die wir so gerne einfache, klare, und leicht zu kontrollierende Anweisungen haben, eine ziemliche Zumutung.
Zumutung Nr. 1:
Zuallererst stellt er in 1. Korinther 13,9 klar, dass wir hier auf dieser Welt unmöglich die vollständige Wahrheit erkennen können. Was auch immer wir erkennen wird immer so verzerrt und verfälscht sein, wie ein Bild in einem verschmutzten, halbblinden Spiegel. Wir als Menschen können uns noch so sehr darauf berufen, dass wir die Bibel genau geprüft, gebetet, vielleicht sogar gefastet, und Gott gefragt haben. Das alles kann nichts an dieser so wichtigen biblischen Aussage ändern, dass wir in unserem zerbrochenen Zustand unmöglich Gottes Wahrheit vollständig erkennen können. Wir als Menschen hassen es, auf diese Weise in unsere Grenzen verwiesen zu werden. Genau deswegen ist es so wichtig, dass Gott uns unsere Grenzen so klar aufzeigt.1Nur zur Erinnerung: Genau dieser Wunsch nach göttlicher Erkenntnis war es, der uns als Menschen von Gott getrennt hat. Es war der „Baum der Erkenntnis“, der so verlockend war, dass wir darüber vergessen haben, dass wir als Menschen nicht dafür gebaut sind, solche Einteilungen und Unterscheidungen zu machen, weil wir nicht „in andere Menschen hineinschauen“ können, wie der Volksmund so schön sagt. Nur Gott kann das, und deswegen hätten wir von diesem Baum besser die Finger gelassen.
Zumutung Nr. 2:
Paulus sagt eben nicht, dass der eine Standpunkt „richtig“ ist, und der andere „falsch“. Er lässt sich eben nicht zu Schwarz-Weiß-Denken auf der Basis von Äußerlichkeiten hinreißen, sondern sagt ärgerlicherweise: „Es kommt darauf an!“. Und zwar auf das Herz, die Einstellung und den persönlichen Hintergrund des einzelnen Menschen. Seine Zumutung besteht darin, dass er uns sagt: Wenn die einen Opferfleisch essen, dann ist das überhaupt kein Problem, während andere tunlichst die Finger davon lassen sollten. Weil es nicht darauf ankommt, was wir essen, sondern warum wir es essen, und was wir damit verbinden bzw. was das bei uns auslöst. Deswegen schreibt Paulus:
- „Du bist nicht der Herr des anderen. Mit welchem Recht willst du ihn also verurteilen?“ (Römer 14,4)
- „Mit welchem Recht verurteilst du also einen anderen Christen? Und warum schaust du auf ihn herab, nur weil er sich anders verhält? Wir werden alle einmal vor Gott stehen, und er wird über uns urteilen.“ (Römer 14,10, Hervorhebung von mir.)
- „Für manche Leute sind bestimmte Tage von besonderer Bedeutung. Für andere wieder sind alle Tage gleich. Jeder soll so leben, dass er mit voller Überzeugung dazu stehen kann.“ (Römer 14,5)
- „Wer nämlich bestimmte Tage als heilig achtet, der will damit Gott, den Herrn, ehren. Und wer alles ohne Unterschied isst, der ehrt Gott auch, denn im Gebet dankt er ihm für das Essen. Meidet aber jemand bestimmte Speisen, dann tut er es aus Liebe zu Gott, und auch er dankt Gott im Gebet und erweist ihm dadurch die Ehre.“ (Römer 14,6)
Die einzige Regel, die Paulus uns im 14. Kapitel des Römerbriefes2das eines der Schlüsselkapitel dafür ist, wie wir als Christen mit unterschiedlichen Ansichten zum Lebensstil umgehen sollten vorgibt ist, dass wir uns in unserer Verschiedenheit respektieren und im Zweifelsfall auf unsere Freiheit verzichten sollten, um für andere nicht zum Stolperstein zu werden:
- „Wenn du also durch das, was du isst, einen anderen Christen verwirrst oder ihn sogar dazu verführst, gegen seine Überzeugung zu handeln, dann bist du lieblos. Wegen irgendwelcher Speisen dürft ihr auf keinen Fall den Glauben eines anderen gefährden, für den doch Christus auch gestorben ist.“ (Römer 14,15)
Auf der anderen Seite stellt er aber auch unmissverständlich klar, dass keine der beiden Seiten „recht“ hat. Denn einerseits kommt es eben nicht auf Äußerlichkeiten an,3Das „richtige“ Essen sehe ich in diesem Fall genauso als Äußerlichkeit wie die „richtige“ Kleidung, weil auch das Essen an sich mit uns nichts Spirituelles bewirkt, wenn wir damit nichts Spirituelles verbinden auf der anderen Seite sollen wir aber niemandem zum Hindernis werden, weil jemand unsere Freiheit als Freibrief dafür auffasst, wieder in seine persönlichen alten und zerstörerischen Muster zurückzukehren.
In Wirklichkeit sind also beide Seiten gefordert: In meinem Beispiel geht es einerseits nicht an, dass Menschen wie ich, für die Kleidung in der Gottesbeziehung keine Rolle spielt, alle anderen als oberflächliche Heuchler sehen, die sich am Sonntag fein herausputzen um gut dazustehen, während sie am Montag wieder genauso ungut zu ihrer Frau und ihren Kollegen sind wie immer. Andererseits geht es aber genausowenig, dass diejenigen, für die das ein wichtiger Ausdruck ihrer Liebe zu Gott ist, alle anderen als Wischiwaschi-Christen sehen, denen es an der nötigen Ernsthaftigkeit und dem nötigen Respekt Gott gegenüber fehlt. Wir sind gefordert, einander in unserer Verschiedeneit zu schätzen und zu respektieren. Indem wir im „anderen“ den fehlende Puzzlestein sehen, durch den das Bild erst vollständig wird – auch wenn wir niemals so sein könnten und wollten wie er oder sie.
Wie ist das in der Vineyard?
Die Vineyard-Bewegung ist aus Menschen entstanden, die von den damaligen Mittelklasse-Christen nur schwer erreicht worden wären. Sie war immer schon ein Sammelbecken jener, die mit traditionellen Kirchen und traditioneller Frömmigkeit wenig bis gar nichts anfangen konnten. Entweder, weil sie aus einem völlig säkularen Umfeld kamen, und ihnen Formen und Jargon der christlichen Szene deshalb völlig fremd war, oder weil sie im Zuge des Aufbruchs der 1968er-Bewegung nach neuen, authentischen Formen von Spiritualität jenseits traditioneller Regeln und Formen suchten. Ein kurzes Video der allerersten Vineyard am Strand von Santa Monica verdeutlicht den Geist, der damals herrschte:
Es war in Summe ein bunter Haufen junger Menschen, die von Jesus ergriffen und begeistert waren, und wo Formen und Äußerlichkeiten völlig bedeutungslos waren. Der junge Mann mit den schwarzen Locken und der Gitarre ist übrigens wirklich Keith Green.
Natürlich haben sich die Dinge in den vergangenen über 40 Jahren geändert. Trotzdem prägt der Geist, in dem die Vineyard begonnen hat, uns immer noch. Für uns als Bewegung ist bis heute im Zweifelsfall unsere innere Haltung zu Jesus wichtiger als jede Äußerlichkeit. Das hat mehrere Konsequenzen:
Auf der einen Seite, dass wir als Bewegung uns jeglichem Schubladendenken verweigern. Wir wollen Gott nicht in die Box unserer begrenzten menschlichen Vorstellungen sperren. Das hat zur Folge, dass wir Dinge, die uns Widersprüchlich erscheinen, so stehen lassen, weil sie oft genug in Wirklichkeit zwei Seiten einer Medaille darstellen, die man nicht voneinander trennen kann. Die Psychologie nennt diesen Zugang Ambiguitätstoleranz. Sie sagt, dass es ein wichtiges Kennzeichen einer gesunden und reifen Persönlichkeit ist, wenn man Mehrdeutigkeiten stehen lassen kann, und nicht mehr das Bedürfnis hat, sie in einfache Schwarz-Weiß-Muster auflösen zu müssen.
Was heißt das für unseren konkreten Fall der Form, wie wir im Gottesdienst auftreten oder unsere Gottesdienste gestalten? Im Buch „Vineyard Values“, das von den Britischen Vineyards herausgegeben wurde, wird dieses Spannungsfeld so beschrieben:
„We are reverent but casual“
Ins Deutsche übertragen könnte man den Satz so formulieren:
„Wir sind ehrfurchtsvoll aber zwanglos“
Und weiter heißt es dort:
„Wenn du in irgendeine Vineyard kommst, wird dir wahrscheinlich auffallen, dass die Menschen so gekleidet sind, wie sie sich wohl fühlen, dass sie während des Gottesdienstes an Getränken nippen oder Süßigkeiten oder Essen, das gerade da ist, genießen. Diese Zwanglosigkeit drückt aber keineswegs aus, dass wir es mit Gott genauso halten! Unsere zwangloser Stil drückt aus, dass wir uns selbst nicht so ernst nehmen, aber gleichzeitig Gott sehr ernst nehmen. Es geht nicht darum, Aufmerksamkeit von Gott abzuziehen, sondern darum, Aufmerksamkeit von uns selbst abzuziehen und auf Ihn hinzulenken.“4Alle Zitate aus: „Vineyard Values“, © Vineyard Churches of UK & Ireland, 2018, ISBN 9781783597284, Seite 13
Genau das war der Grund, warum ich mich 2004, als ich in die Vineyard kam, auf Anhieb so wohl fühlte. Weil ich dort endlich einen Platz gefunden hatte, wo es eben nicht um Äußerlichkeiten ging, sondern Menschen wahr- und ernst genommen wurden so wie sie waren, völlig egal wie sie „daherkamen“. Ich habe es als unglaublich heilsam empfunden, dass da endlich eine Kirche war, die bereit war, sich die Mühe zu machen, hinter die Fassade zu schauen. Was den Menschen dort deshalb so leicht fiel, weil Fassaden in der Vineyard nie wichtig waren, sondern es immer ums Herz der Menschen ging.
Unsere Vorgängerin als Pastorin, Hannelore Storm (damals Rus), sagte immer: „Die Gemeinde5Damit ist die lokale christliche Kirche gemeint. ist der sicherste Ort auf der Welt“. Warum? Eben weil dort jene Menschen zusammenkommen, die wissen, dass sie jeden Tag aufs Neue auf Gottes Gnade angewiesen sind. Und weil die Menschen dort wissen, dass sie ganz und gar auf Jesus angewiesen sind, und dass sie aus sich selbst nichts zustande bringen könnten was vor Gott bestand hat, sind sie auch völlig frei von jedem Richten und Verurteilen. Wer wirklich verstanden hat, wie schwach und fehlbar er selbst ist, wird nicht mehr auf die Idee kommen, sich über andere Menschen zu stellen, die – weil sie genauso schwach und fehlbar sind – Mist gebaut haben. Egal wie groß der war.
Als Vineyard wollen wir eine Kirche sein, die voller Leidenschaft für Jesus und für die Menschen rund um uns herum ist. Wir wollen das aber auf eine Weise leben, in der es zuallererst um die innere Einstellung der Menschen gibt, und wo die Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilt werden, sondern danach, wo ihr Herz steht. Und wenn wir nur genau genug mit den Augen von Jesus auf die Menschen hinschauen, werden wir in jedem Menschen einen von Gott gegebenen Schatz entdecken. Völlig egal, wie dieser Mensch „daherkommt“ oder was in seinem bisherigen Leben geschehen ist. Das ist mein ganz persönliches Herzensanliegen, weil ich sehe, wie sehr es so eine Kirche braucht – neben all den anderen, wohlgemerkt, die genauso wichtig und „richtig“ sind, weil sie dort gut sind, wo wir es nicht sind, und die auf diese Weise die Lücken abdecken, die wir offen lassen.
Zum Abschluss noch meine persönliche Geschichte dazu:
Ich habe meine Teenagerjahre in den 1980ern am Land verbracht. Um diese Zeit zu verstehen, muss man wissen, dass die gesellschaftlichen Normen nicht nur in Bezug auf Kleidung damals um vieles strikter waren als heute. In meiner Jugend mit so zerrissenen Jeans auf die Gasse zu gehen wie man sie heute überall zu kaufen bekommt war ein absolutes No-Go und hätte für Teenager, die so etwas machen, im günstigeren Fall zu einer Standpaukte und dem Verbot, „so“ auf die Gasse zu gehen, geführt. Im ungünstigeren Fall hätte es ein paar Ohrfeigen und Hausarrest gegeben. Ganz abgesehen davon, dass es in meinen Kreisen damals nichts peinlicheres gegeben hätte als nagelneue Jeans, die man absichtlich zerreißt, um so zu tun, als ob sie durchs lange Tragen zerschlissen wären – aber das ist eine andere Geschichte.
Ich bin damals, im Frühjahr 1987, so herumgelaufen:
Das war meine zweite Hose dieser Art, die erste war nach 2 Jahren irreparabel zerschlissen. Mit so etwas hat man damals ganz massiv Aufsehen erregt.6Nein, nicht wegen den Hausschuhen. Die waren für daheim sehr praktisch und zweckmäßig, auf die Gasse wäre ich mit denen aber nie im Leben gegangen. Diese und meine anderen, in der Regel ziemlich zerschlissenen und mehrfach geflickten Jeans haben mir dann auch den Ruf eines Drogendealers eingetragen. Zu meinem damaligen Bekanntenkreis am Gymnasium zählte nämlich ein Mädchen, das ein Drogenproblem hatte. Und weil ich mich in den Pausen immer wieder mit ihr unterhielt, veranlasste das einen der Lehrer, über mich das Gerücht zu verbreiten, dass ich derjenige war, der sie mit Drogen versorgte. Warum? Ganz einfach: Wer „so daherkommt“ kann unmöglich ein „anständiger“ Mensch sein. Damals war so etwas eine völlig einleuchtende und schlüssige Argumentation. Mein Vater hat den betroffenen Lehrer dann übrigens angerufen und am Telefon zusammengeputzt, weil er diese Unwahrheit über mich verbreitet hat. Er war dann sehr kleinlaut. Und mir tut es noch heute leid, dass ich den Artikel vom „Giftlerkönig“, den ich für die Schülerzeitung verfasst hatte, und in dem ich genau diese Oberflächlichkeit in einer märchengleichen Parabel über dieses Gerücht verarbeitet hatte, auf Anraten anderer dann doch nicht veröffentlicht habe.
Damals waren Rock, Jazzrock, Hardrock und Heavy Metal7Metal war damals noch nicht in die dutzenden Subgenres zersplittert, wie wir sie heute kennenm und wo zumindest ich mir die Frage stelle, warum man für jede stilistische Variation gleich als eigenes Genre definieren muss. der 1970er und 80er unsere Musik, und wir persiflierten die damaligen Rituale des 1980er-Metal in einer fiktiven Band, die wir die „Devil’s Messengers“ nannten. Aber keine Angst, wir praktizierten keine satanischen Rituale. Der Name war vielmehr eine Persiflage auf die in dieser Szene so offensiv zur Schau gestellte Bad-Boy-Attitüde, die wir ziemlich peinlich und übertrieben fanden. Einmal trafen wir uns in entsprechender Adjustierung zu einem fiktiven Konzert am leeren Dachboden eines Freundes. Ich bin der am Foto ganz rechts, und nein, damals konnte ich noch nicht Gitarre spielen. Wir haben hauptsächlich dissonanten Lärm produziert,8Leider ist die Musikkassette, auf der wir unsere „Musik“ mittels eines Diktiergerätes aufgenommen hatten, längst verloren gegangen. hatten einen Riesenspaß dabei, aber was das aller-, aller-, allerwichtigste war: Die Pose! Die stimmte:
Ja, meine zerrissenen Jeans und meine fragwürdige Frisur waren damals Ausdruck einer ausgeprägt rebellischen Haltung. Die Sache ist nur die: Für meine Generation gab es damals noch sehr gute Gründe zur Rebellion. Es war eine Rebellion gegen einen vordergründig schönen äußeren Schein, hinter dem sich leider zu oft unschöne menschliche Abgründe verbargen. Diese Rebellion war Ausdruck einer Sehnsucht nach etwas Echtem und Authentischen, etwas, das mehr zu bieten hatte als die Fassade der vordergründig ehrenwerten und anständigen Kleinbürgerlichkeit. Diese „Anständigkeit“ maß man daran, ob die Schuhe ordentlich geputzt und die Hosen ordentlich gebügelt waren, und ob der Seitenscheitel akkurat saß. Höhepunkt dieser Anständigkeit war das sonntägliche Schaulaufen vor der Kirche, wo es beim Sonntagsgewand9vor allem dem der Frauen. Die Männer gingen in der Regel vom Kirchenvorplatz direkt zum Frühschoppen, ohne den Umweg über die Messe zu nehmen viel zu oft nicht mehr darum ging, seinen Respekt vor Gott auszudrücken,10etwas, worin meiner ganz persönlichen Meinung nach eine der ganz großen Stärken der römisch-katholischen Kirche liegt sondern nur mehr darum, das restliche Dorf zu beeindrucken und den Neid der Nachbarn zu wecken, weil man „besser“ angezogen war als sie. Wir wollten das echte Leben, nicht nur schönen Schein, und waren in diesem Sinne spätgeborene Kinder der 1968er-Bewegung.
Auch später habe ich mich bei meinem Äußeren nicht um Regeln und Konventionen gekümmert. Mit 22 habe ich mir z.B. einen Irokesen rasiert. Nicht, weil ich gegen irgendwas oder irgendwen rebellieren wollte, sondern einfach nur deswegen, weil ich wissen wollte, wie ich damit aussehe. Mir hat er ziemlich gut gefallen, in meiner damaligen Kirche kam er leider nicht so gut an. Also hab ich die Haare wieder nachwachsen lassen. So wichtig war mir der Irokese dann auch wieder nicht. Ausgesehen hat er übrigens so:
In meinen 30ern gab es dann eine Zeit, in der ich Röcke trug und barfuß ging. Auch das hat zahllose Reaktionen bei wildfremden Menschen ausgelöst. Und wieder war ich äußerst erstaunt darüber, wie heftig die mitunter waren. Dass so eine bedeutungslose Äußerlichkeit für Menschen, die mich noch nie gesehen hatten, und die mich auch nie wieder sehen werden, so ein Riesenthema ist, ist für mich bis heute nur schwer nachvollziehbar. Und was da alles hineininterpretiert wurde! Nicht nur von jenen, die das furchtbar fanden – auch viele Komplimente fand ich ziemlich befremdlich. Schließlich war ich trotz allem nur ein ganz normaler Mensch, der sich nur etwas anders kleidete, und dem nichts daran lag, mit diesen Dingen irgendeine wie auch immer geartete Botschaft zu verbreiten.
Ich fand barfuß gehen einfach nur angenehm,11auch wenn es eine gewisse Gewöhnung braucht – nicht jeden Untergrund hält man in der Anfangsphase schmerzfrei aus und mit den Röcken war es nicht anders. Ich hatte – so wie beim Irokesen – irgendwann einfach nur Lust darauf, sie auszuprobieren. Auch die haben mir an mir selbst ziemlich gut gefallen (meiner Frau übrigens auch), und ich habe sie in der Sommerhitze unglaublich angenehm gefunden.12Ich finde bis heute bei Hitze leichte Röcke wesentlich zweckmäßiger – weil luftiger – als kurze Hosen.
Trotzdem habe ich mit beidem wieder aufgehört – zumindest wenn ich auf die Gasse gehe. Weil es mir den Aufruhr, den beides verursachte, irgendwann nicht mehr wert war. Also habe ich mich an Paulus gehalten, wenn er sagt: Mach keine Dinge, die für andere zum Stolperstein oder zum Ärgernis werden, weil es das nicht wert ist. Recht hat er, der Paulus!
Wo stehe ich heute?
Für mich ist heute Vielfalt ein ganz zentrale Wert. Rebellion habe ich Gott sei Dank nicht mehr nötig. Ja, manchmal juckt es mich noch, aber meistens bin ich weise genug, um es dann lieber bleiben zu lassen. Es gibt so viel wichtigere Dinge im Leben.
Vielfalt wird für mich im Motto der Vineyard Wien auf sehr schöne Weise ausgedrückt, wenn es heißt: „Komm wie Du bist“. Ja, ich habe eine Geschichte. Ich komme aus sehr bescheidenen Verhältnissen und ich war in jungen Jahren ein aufrechter Linker. Was mich aber viel mehr geprägt hat als mein materieller Hintergrund oder meine politischen Ansichten, ist die Unbefangenheit, die ich aus meinem Elternhaus mitbekommen habe. Auch meine Eltern waren – obwohl sie noch zur Vorkriegsgeneration gehörten – auf ihre Weise einfach „sie selbst“, ohne sich viel darum zu kümmern, was andere davon hielten. Wahrscheinlich war das der Grund, warum sie meine jugendlichen Verrücktheiten mit erstaunlicher Gelassenheit hingenommen haben.
Mir ist es wirklich wichtig, dass wir Menschen nicht aufgrund von Äußerlichkeiten beurteilen. Weil damit – nämlich immer dann, wenn uns diese Äußerlichkeiten nicht zusagen – leider oft ein verurteilen Hand in Hand geht. Leider sind wir Menschen so, dass es uns schwer fällt, Dinge, die uns nicht entsprechen, nicht einfach als „anders“ stehen zu lassen. Wir alle, ich eingeschlossen, kippen leicht in ein Muster, in dem wir alles, was „anders“ ist, als „falsch“ ablehnen. Im Vergleich zu vor 40 Jahren hat sich was das betrifft Gott sei Dank enorm viel geändert. Wenn man sich heute anschaut, was in den 1970ern ein Aufreger war, kann man nur den Kopf schütteln. Frei von diesem Schubladisieren sind wir aber trotzdem noch nicht. Und das ist nicht gut. Auch ich muss und will daran beständig arbeiten, weil ich nicht möchte, dass durch mein Urteilen die Liebe Gottes, die er durch mich den Menschen in meinem Umfeld schenken will, blockiert wird.
Mir ist es so wichtig, dass Menschen einfach „sein können“. Weil Gott ja auch mich „sein lässt“. Ja, an meinen Ecken und Kanten schleift er immer wieder, und dafür bin ich dankbar, weil mich das freier, liebevoller und gelassener macht. Andere Dinge hingegen liebt er. Ganz einfach weil er wollte, dass ich genau so und nicht anders bin. Also lassen wir doch bitte auch anderen Menschen diese Freiheit, für die wir Gott selbst so dankbar sind.
Es gibt so viele Schubladen. Ich mag es beispielsweise auch nicht, wenn die Menschen in der Anbetungszeit aufgefordert werden, aufzustehen. Ja, es drückt etwas aus, wenn wir aufstehen. Und trotzdem ist auch das nur eine Äußerlichkeit, die nichts über die Herzenshaltung eines Menschen aussagt. Saul beispielsweise war äußerlich eine beeindruckende Erscheinung. Und trotzdem war er ein zutiefst unsicherer Mensch, den seine Menschenfurcht am Ende völlig zerstört hat. Auf der anderen Seite wäre David niemals König geworden, wenn Samuel Sauls Nachfolger nur nach äußerlichen Kriterien ausgesucht hätte. Und so kann jemand, der in der Anbetung still und in sich gekehrt da sitzt, Gott möglicherweise näher sein als jemand, der „korrekt“ aufsteht und mitklatscht, und dabei aber an etwas ganz anderes denkt. Dass beides geht, das weiß ich aus eigener Erfahrung.
Ich habe zwei Dinge zu oft erlebt:
Erstens, dass ich selbst als Mensch überhaupt nicht wahrgenommen wurde, sondern auf ein Objekt und eine Projektionsfläche reduziert wurde, weil mein Äußeres nicht den gängigen gesellschaftlichen Vorstellungen entsprach. Ich habe am eigenen Leib erlebt, wie es ist, ausgegrenzt zu werden, weil man „anders“ ist, obwohl man in Wirklichkeit überhaupt nicht „anders“ ist, sondern ein ganz normaler Mensch wie alle anderen auch, und der einzige Unterschied zu den „anderen“ in einigen in Wirklichkeit völlig unbedeutenden Äußerlichkeiten besteht.
Und zweitens, wie oft Christen den Lebensstil der westlichen, weißen Mittelklasse der frühen 1960er-Jahre zum einzig „gottgefälligen“ Lebensstil erklärt haben. Manche tun das bis heute und weinen der „guten, alten Zeit“ nach. Alles, was davon abwich, wurde als „weltlich“ oder gar „teuflisch“ abgelehnt. Larry Norman beschreibt diese Einstellung in diesem Video auf liebevoll-ironische Weise. Ohne die Vineyard-Bewegung würden wir möglicherweise bis heute in Kirchen traditionelle Choräle singen, und wäre es verpönt „weltliche“ Musik in die Kirchen zu tragen. Oder gar „teuflische Rockmusik“. Die christliche Band Stryper, die in den 1980er-Jahren christlichen Heavy Metal spielte und berühmt war dafür, auf ihren Konzerten haufenweise Bibeln ins Publikum zu werfen, wurde von vielen Christen abgelehnt – und das, obwohl durch ihren Dienst über die Jahre viele tausend Menschen aus der Heavy-Metal-Szene zu Jesus fanden. Menschen, die die weißen Mittelklasse-Christen unmöglich erreicht hätten. Aber wie die daherkamen:
Für alle Spätgeborenen: Es waren die 1980er, da war so ein Oufit ziemlich heiß. Die Scorpions kleideten sich damals auch nicht viel anders – ganz zu schweigen von Bands wie Mötley Crüe oder – ganz arg – Nitro.
Aber trotzdem: Dass diese Typen unmöglich „anständige Christen“ sein können, sieht man doch auf den ersten Blick! Oder etwa nicht?
Martin Luther war wesentlich entspannter, was Kirchenmusik betraf. Damals gab es zwar noch keinen Hardrock, unterschiedliche Musikstile existierten aber sehr wohl. Martin Luther war der Stil nicht wichtig, er war überzeugt davon, dass erst der Text das Lied ausmacht 13Quelle: https://www.luther2017.de/de/reformation/und-kultur/musik/martin-luther-vater-der-lieder/index.html und hatte keine Berührungsängste mit „weltlicher“ Musik. Im Gegenteil, er wollte Lieder auch bewusst volkstümlich gestalten, um die Inhalte für die Menschen besser zugänglich zu machen. Deshalb wurden in den so genannten „Kontrafakturen“ weltliche Lieder mit neuen, geistlichen Texten versehen, wie zum Beispiel „Vom Himmel hoch“ oder „O Welt, ich muss dich lassen“. Den Satz „Why should the devil have all the good music?“ hat Larry Norman möglicherweise nicht von Martin Luther sondern eher von William Booth gestohlen, das Prinzip stammt jedenfalls aus der Reformationszeit.14Seite 5 unten aus: https://www.lutheranstellenbosch.co.za/wp-content/uploads/2015/01/Kirchenlieder-von-Martin-Luther-Winfried-Lu%CC%88demann.pdf. Die neue Anbetungsmusik, die ab den 1980ern aus der Vineyard über die Jahre in die anderen Kirchen hineinkam, und die heute von Bethel, Jesus Culture, Hillsong und anderen weitergeführt wird, war also keine „Anpassung an die Welt“, sondern die Fortführung einer in der Reformationszeit entstandenen und bewährten Praxis.
Was lernen wir daraus?
Gott ist unendlich vielfältig. Ich bin überzeugt davon, dass Gott was Stilfragen betrifft, wesentlich entspannter ist als wir Menschen, die wir so gerne in „richtig“ oder „falsch“ einteilen. Denn das Spiel wird ja wie schon gesagt von beiden Seiten gespielt. Lassen wir doch bitte die Kirche im Dorf und machen es wie Jesus: Akzeptieren und lieben wir die Menschen so wie sie sind. Musste ich etwas lernen? Natürlich. Ich musste beispielsweise lernen, dass Jesus erzkonservative reiche Hietzinger genauso liebt wie drogenkranke und obdachlose Menschen. Ich musste etliche Jahre in der Wirtschaft arbeiten um zu lernen, dass Unternehmer nicht per se böse Ausbeuter sind, und die Wirtschaft keineswegs durchwegs „böse“. Anderen geht es genau umgekehrt. Und wieder andere haben das Glück, von vorne herein mit diesen Dingen gelassen umgehen zu können, weil sie nie auf ungesunde Weise geprägt wurden. Das sind die Glücklichsten. Halten wir es doch mit Jesus: Respektieren wir einander. Achten wir einander. Und vor allem: Verurteilen wir einander nicht. Schon gar nicht wegen so unbedeutender Äußerlichkeiten wie dem persönlichen Kleidungsstil. Kleider machen nur vor Menschen Leute, weil Menschen nicht ins Herz hineinschauen können. Darum lassen sich Menschen auch von Kleidung beeindrucken. Oder abstoßen. Je nach dem. Bei Gott ist das nicht so. Er kennt und versteht uns durch und durch. Er weiß, wie wir es wirklich meinen, auch wenn die anderen uns hundertmal falsch verstehen. Lassen wir doch Jesus an unser Herz heran und lassen wir uns von Ihm befreien zu genau dieser Lebenseinstellung. Auf diese Weise wird die Welt ein weit besserer Ort, als wenn alle gleich angezogen sind (egal wie), nur damit einige „glücklich“ sind.