Das Spannungsfeld zwischen Gott zu haben und doch unzufrieden zu sein
Im Spital1Ich habe diesen Post während meiner zweiten Chemotherapie im Hanusch-KH geschrieben ist man ja nicht nur krank, man hat auch Zeit. Zeit zu lesen. In dem Fall „Chasing Contentment“ von Erik Raymond. Den Titel könnte man so auf Deutsch übertragen: „Der Zufriedenheit hinterherrennen – Gott vertrauen in einer unzufriedenen Zeit“.
Schon die ersten beiden Kapitel haben mich tief getroffen. In denen Erik Raymond einerseits schildert, dass Gott in sich selbst völlig zufrieden und voller Freude ist, und nichts braucht, damit das mehr wird. Und andererseits, dass ich, wenn ich Jesus nachfolge, Teil dieser tiefen Erfüllung und Zufriedenheit werden kann. Blaise Pascal beschrieb das so:
„Jeder Mensch hat in seinem Herzen ein Loch, in das nur Gott hineinpasst. Und nichts weniger als Gott kann dieses Loch ausfüllen.“
Was mich so getroffen hat an der Aussage von Erik Raymond ist, dass ich – so wie jeder Mensch, der sein Leben Jesus in die Hand gegeben hat – ein völlig zufriedenes Leben leben kann. Die Bibel sagt quer durch das Alte und das Neue Testament, dass ich durch Jesus nicht mehr Teil des „Systems“ bin. Ein brandheißes Thema heutzutage. In der Bibel bezeichnen sich Menschen als „Fremdlinge (also Ausländer) in dieser Welt“. Es heißt, dass wir nicht mehr „Teil dieser Welt (also der Gesellschaft und ihren Vorstellungen und Werten)“ sind. Ich bin nicht mehr den Dingen unterworfen, nach denen sich die Menschen meiner Zeit sehnen, und worin sie Erfüllung suchen. Weil Jesus mir unendlich viel mehr an Erfüllung gibt. Eine Erfüllung, die mir jederzeit zu 100% zur Verfügung steht.
Und das führt mich direkt zu meiner tiefen inneren Zerrissenheit. Denn auf der einen Seite ist alles, was ich hier schrieb und schreibe darüber, wie tief Gott mich berührt und verändert hat und welche Liebe und Dankbarkeit das in mir geweckt hat, wahr und erlebe ich genau so. Aber es ist nicht alles, denn daneben erlebe ich immer noch den inneren Drang, der mich wegzieht von Gott, hinein in diverse Ablenkungen, die mir keineswegs gut tun. Offensichtlich hat Gott dieses „Loch“ in mir noch nicht vollständig ausgefüllt. Und gibt es da noch Bereiche wo ich blind dafür bin, dass ich den versammelten Müll, mit dem ich mich ablenke, längst nicht mehr nötig habe. Ich brauch das nicht mehr. Ich habe so viel mehr in Gott und in Jesus und in Gottes Geist. Aber ich kann es nicht sehen. Ich kann oder will diese Ablenkungen nicht loslassen.
Erik Raymond verwendet ein sehr drastisches Bild: Wenn ich mit Jesus gehe, dann geht es nicht darum, dass ich Jesus in mein Regal meiner persönliches Götzen (materielle Dinge, Konsumgüter, Ablenkungen, …) dazustelle. Sondern das Regal radikal ausleere und Jesus als Einziger darin übrig bleibt. In meinen Worten muss ich mir immer wieder die ehrliche Frage stellen: Lebe ich nicht viel mehr ein „… und Jesus“ als ein „Jesus und … ?“.
Paulus beschreibt dieses Spannungsfeld sehr schön in seinem Brief an die Römer, wo er in Kapitel sieben diese zerbrochene Seite in uns schildert, und ihr in Kapitel acht Gottes Antwort darauf gegenüberstellt. John Wimber hat das zusammengefasst in dem schönen Satz: „Wir leben im schon jetzt und noch nicht.“. Wir erleben schon jetzt Gottes Kraft, seine Gegenwart, seine Liebe und Zuwendung. Aber eben noch nicht vollständig, sondern „bruchstückhaft“, wie es Paulus im 1. Korintherbrief in Kapitel 13, Vers 12 beschreibt. Das ist die schmerzliche Realität, der ich mich als Nachfolger von Jesus stellen muss. Immer wieder. Und ich immer wieder schmerzlich feststelle, dass ich noch viel zu sehr im „noch nicht“ lebe anstatt im „schon jetzt“.
Warum ist das so? Ich fürchte, ich bin – was das betrifft – noch immer viel zu sehr Kind meiner Zeit als ein Kind von Jesus. Eine Zeit, in der es uns immer noch viel zu gut geht, und es uns allen viel zu schwer fällt, zu sehen, dass unser unglaublicher Wohlstand und Luxus und unser Streben nach individueller Erfüllung uns am Ende nichts geben kann. Nicht das, was wir alle brauchen. Ich merke, wie sehr wir auch in den diversen Kirchen viel zu sehr davon getrieben sind, was uns die Kirche bieten kann. Ob sie uns das „Richtige“ gibt, das wir „brauchen“. Auf der einen Seite ist der Wunsch danach natürlich legitim. Aber er darf niemals unser einziges Kriterium sein. Kirchen stagnieren und zerbrechen, wenn zu viele Menschen in ihr so denken und leben. Und ich befürchte, dass genau das das Kernproblem in vielen westlichen Kirchen ist. Wo wir so sehr vereinnahmt sind von unserer eigenen Bedürftigkeit und dem, was wir glauben, zu „brauchen“, dass wir nicht mehr sehen können, das rund um uns eine zutiefst zerbrochene Welt existiert, in der viel mehr Menschen, als wir meinen, großen geistlichen Hunger haben. Und sich dann anderen Dingen zuwenden, weil wir als Kirche dieses Bedürfnis nicht stillen. Der Zustand einer Gesellschaft ist nicht nur, aber immer auch ein Spiegelbild der christlichen Kirche in ihr.
Was also kann ich tun?
Eines ist klar: Mich zu beschweren ist keine Lösung. Der Volksmund sagt: „Wenn ich mit einem Finger auf andere zeige, zeigen immer drei Finger zurück zu mir.“ Natürlich muss ich sehen, in welcher Zeit ich stehe und wie mich das beeinflusst. Aber das ist, wie man so schön sagt, nur eine Erklärung und keine Entschuldigung dafür, dass ich es auch nicht besser mache.
Und noch eines ist klar: Verändern kann ich mich selber nicht. Natürlich ist es immer wieder gut und richtig, sich „zusammenzureißen“. Und eben nicht die eigenen Charakterfehler den anderen ungefiltert drüberzukippen. Leider glauben manche, dass dies ein legitimer Teil von „Ehrlichkeit“ und „Authentisch sein“ ist. Ja, ist er schon. Aber es hat Konsequenzen, wenn ich das so auslebe. Nämlich, dass sich Menschen – zu Recht – von mir distanzieren werden. Nicht, weil sie mich „nicht lieben“. Sondern weil ich – wenn ich das tatsächlich so lebe – kein liebenswerter, sondern ein verletzender Mensch und eine Last für mein Umfeld bin.
Ja, die Kirche hat den Auftrag, der „sicherste Ort der Welt zu sein“, wie das unsere ehemalige Pastorin Hannelore Rus (jetzt Storm) immer gesagt hat. Das hat sich tief in mir eingeprägt. Damit sie dieser „sicherste Ort“ bleiben kann, bin aber auch ich gefordert, meinen Teil dazu beizutragen, dass auch die anderen sich sicher, geliebt und angenommen fühlen. Indem ich mir dabei helfen lasse, zu so einem Menschen zu werden. Indem ich regelmäßig komme. Teil einer Kleingruppe bin, wo es den engen persönlichen Austausch gibt, der im Gottesdienst nicht möglich ist. Dass ich Seelsorge oder Therapie in Anspruch nehme, wenn ich das brauche. Die Kirche nennt diesen Prozess „Jüngerschaft“. Soll heißen: Ich lasse mich darauf ein, mich zu verändern. Und von Gott verändern zu lassen. Mich persönlich und in meiner Beziehung zu Gott weiter zu entwickeln.
Ich bin also gefordert. Jetzt, in meiner neuen Kirche, wieder aufs Neue. Offen sein für die Menschen. Offen sein für die andere Kultur. Nicht in Nostalgie zu versinken. Lernen, eine andere, neue Kultur zu lieben. Und die Menschen darin. In meinem Fall sind es ja nur Äußerlichkeiten, die für mich nicht so einfach bin. Einfach, weil ich einen zum Teil ganz anderen Stil gewohnt bin. Wenn ich ehrlich bin muss ich zugeben, dass das, was ich dort bekomme, inhaltlich immer wieder besser und gesünder ist als das, was ich in unserer alten Kirche bekommen habe.
Und ich bin auch persönlich gefordert. Nichts kann meine persönlichen Zeit mit Gott ersetzen. Dankbar bin ich für das Gerüst, dass mir jetzt mein Orden, der OMS, gibt. Sie bezeichnen sich ja selbst als eine Gemeinschaft, die sich selbst durch ihre Regeln so etwas wie ein „Spalier“ (also ein Rankgitter) gibt, damit wir gemeinsam in eine gute Richtung wachsen können. Das hilft mir, meine Prioritäten zu verändern und gesündere Routinen zu entwickeln. Wenn wir Zeit mit Gott verbringen, färbt Gott auf uns ab. Im Endeffekt ist das der einzige Weg zur Veränderung, der wirklich dauerhaft funktioniert. Wenn ich diesen Weg nicht gehe – auch wenn ich zwischendurch immer wieder scheitere – werde ich stehen bleiben. Werde ich stehen bleiben in einem “ … und Jesus“ und dieses „Jesus alleine“ nur aus der Ferne sehen. Dann bleibt es – wenn überhaupt – nur bei einer „Vorahnung“ und es wird nie zur Wirklichkeit in meinem Leben.
Da stehe ich also. Ich bitte Gott um diese Veränderung. Ich bitte ihn um eine tiefgreifende innere Umkehr. Aber ich bin gleichzeitig auch gefordert, mir Zeit zu nehmen, dass er mit mir reden, mir begegnen, mir antworten kann. „Auf mich abfärben“. Es braucht beides. Ich brauche ein Ziel. Ich muss wissen, wo ich jetzt stehe und in welcher Richtung ich jetzt Veränderung brauche. Wenn ich mir aber keine Zeit für Gott nehme, dann wird diese Veränderung nicht passieren. Nein, die bekomme ich nicht als „Belohnung“. Sie macht mich nicht zu einem „besseren Christen“. Das einzige, was sie tut ist, dass ich mich und mein Innerstes so gut es mir möglich ist öffne und Gott „hineinleuchten“ lasse. Damit das Finstere in mir immer heller wird. Er alleine bewirkt diese Veränderung. Und nein, er macht das nicht für mich und nicht, weil ich es verdient habe. Nachzulesen zum Beispiel in Hesekiel 36. Habe ich erst dieser Tage gelesen. Tut weh. Also mir zumindest. Ist aber die Wahrheit. Und sie wird mir erst dann nicht mehr weh tun, wenn ich begriffen habe, dass ich in Jesus Christus alles habe, was ich brauche. Dass ich das ganze Rundherum nicht nötig habe, was mich derzeit noch so sehr ablenkt. Weil Gott mir so viel mehr gibt. Wenn ich es nur sehen will. Und so bin ich jetzt auf der Reise. Mit einem Ziel. Und dem schmerzlichen Bewusstein, dass ich es nicht in der Hand habe, wann und wie Gott wirkt. So oft habe ich mir gewünscht, es würde schneller gehen. Aber gleichzeitig habe ich es erlebt, wie oft Gott mir genau das geschenkt hat, wonach ich mich gesehnt habe. Anders. Unerwartet. Manchmal erst nach langer Zeit. Aber immer besser, als ich es mir davor vorstellen konnte. Und das gibt mir die Hoffnung, die ich genau jetzt wieder brauche.