Verwundet

Chronik meiner Leukämie – 2 Monate, 2 Chemos

Ich bin kein Held

Ich bin ein ganz normaler Mensch. Der um nichts weniger ängstlich, schwach, besorgt, zerbrechlich oder verwundbar ist als irgend jemand anderer. Ich bin auch kein Vorbild. Ich gehe mit meiner Krankheit so um, wie es mir persönlich möglich ist. Das ist alles. Ich kann nicht anders. Im Guten wie im Schlechten. Deshalb sind mir Komplimente für meinen Umgang mit meiner Krankheit gar nicht so angenehm. Bitte versteht diesen Satz jetzt nicht falsch. Ich weiß, wie eure  Komplimente gemeint sind und dass sie wirklich von Herzen kommen. Darüber freut sich ein Teil von mir ehrlich. Ein anderer Teil denkt sich aber: Ja, danke, ich weiß, aber die gehören in Wirklichkeit nicht mir, sie gehören Jesus. Ich kenne mich nämlich seit 55 Jahren. Ich weiß wo ich herkomme und wie kaputt ich war. Ich kenne den himmelhohen Unterschied zwischen damals und heute besser als viele von euch. Ich weiß ziemlich gut, was ich kann und was ich nicht kann. Deshalb weiß ich so gut, dass ich niemals der Mensch hätte werden können, der ich heute bin, wenn Jesus mich nicht vor mir selbst gerettet hätte.

Das ist der Grund, warum  ich sage: Wenn euch das, was ich bin, schreibe oder sage, ermutigt, dann dankt bitte nicht mir. Dankt Jesus, der mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich bin. Meinen Weg mit ihm bin ich nicht „bewusst“ oder „besonders“ gegangen. Ich bin so gut es ging einfach nur meiner Sehnsucht gefolgt. Oft bin ich auf dem Weg mehr ziellos dahingestolpert. Und einige Male böse in die Irre gegangen. Das hat mich viel gekostet. Jesus hat mich durch all das durchgetragen. Er ist dafür verantwortlich, dass ich aus den Tiefschlägen meines Lebens nicht verbittert hervorgegangen bin, sondern positiv verändert. Er hat mir so viel Gutes getan. Deshalb habe ich ihn auch so lieb. Und bin ich ihm so dankbar dafür.

Was mir hilft und gut tut auf meinem harten Weg durch die Folgen meiner schweren Krankheit sind Zuspruch und Beistand. Alleine zu wissen, wie viele liebe Menschen an mich denken, mir positive Gedanken schicken oder für mich beten, tut so unendlich gut. Das spüre ich deutlich, und das ganz unabhängig davon, ob ihr mir das sagt oder nicht. Ich bin von Herzen dankbar dafür, dass ich diesen Weg nicht alleine gehen muss. Was mir auch sehr gut getan hat, waren die ermutigenden Botschaften, die immer wieder von euch gekommen sind. Oft (aber nicht nur) in Form von Bibelzitaten, die genau in meine Situation hineingesprochen haben. Aber auch in Form von simplen Garfield-Cartoons (Danke, Uschi!), die mich einige Male genau dann aufgeheitert haben, wenn ich es echt nötig hatte. Das hat mir immer wieder mehr geholfen, als euch vielleicht bewusst war.

Meine Seele weint

Im Moment bin ich emotional ziemlich am Boden. Habe das Gefühl, meine Seele kann nicht mehr und will nur mehr in der Ecke sitzen und weinen. Es waren ja nicht nur die zwei Chemos, die hart waren. Auch die Monate davor, die ich so völlig erschöpft war, haben meine Seele viel gekostet. Es ist hart, wenn man im Spital heftig hochfiebert, weil mangels Abwehrkräften eine Sepsis droht oder der völlig erschöpfte Körper durch über eine halbe Stunde heftigen Schüttelfrost durch muss, weil man auf ein Thrombozytenkonzentrat reagiert. Es war aber auch hart, wie ich davor über mehrere Monate von einer bleiernen Erschöpfung zu Boden gezwungen wurde und ich mich selbst nicht mehr verstand, weil für nichts mehr Kraft und Energie da war.

Die letzten vier Tage im Spital waren der Horror. Ich habe einen heftigen Lagerkoller entwickelt. Fast wie eine permanente Panikattacke für die, die das kennen. Ich wollte nur noch raus, brachte kaum noch Essen runter und hätte alles unterschrieben, wenn ich auch nur einen Tag später als geplant entlassen worden wäre (ich ging am Samstag, 23. November, heim). Und so kam ich nicht nur als körperliches, sondern auch als seelisches Wrack nach Hause. Sehr zerbrechlich, zerschlagen und in vielerlei Hinsicht am Ende meiner Kräfte. Mein Körper erholt sich zügig davon, dass ich mehrere Tage kaum gegessen habe. Meine Seele wird noch länger brauchen. Ich bin unendlich dankbar dafür, dass das zu Hause, an meinem sicheren Ort und mit einer so wunderbaren Frau an der Seite, geschehen kann. Was würde ich machen ohne sie!

Ein Indianer kennt keinen Schmerz

Die härteste Lektion für mich ist, Schmerz und Schwäche zuzulassen. Heute klingt dieser Spruch so harmlos. In meiner Kindheit war der Satz aber nicht harmlos, sondern bitterernst. Viele meines Alters wurden gedrillt darauf, nur ja keine Schwäche zu zeigen. Wer nach einer Rauferei oder sonst etwas weinte, war die Heulsuse. Und die Heulsuse war die, die in der Hackordnung ganz unten stand. Dort wollte man nicht sein. Deshalb war es mitunter eine Überlebensfrage, die Seele abzuhärten, damit man nur ja keinen Schmerz und keine Schwäche zeigte. Sondern hart war und was aushielt. „Männerschnupfen“? Dass ich nicht lache. Wer so herumgeheult hätte, wäre das Letzte gewesen. Das prägt. Und wie ich jetzt merke viel tiefer, als mir bewusst war.

Es widerstrebt mir zutiefst, mir beim Essen nicht selber das Besteck und etwas zu trinken zu holen, sondern meine Frau darum zu bitten. Weil mich das Aufstehen so viel Kraft kosten würde. Sie darum zu bitten, mir die Brille zu bringen. Solche Dinge. Gut möglich, dass diese Schwäche Männer stärker trifft als Frauen, weil sich Männer im Allgemeinen mehr über ihre Stärke und ihr Können definieren als Frauen. Das betrifft auch emotionale Schwäche. Selbst gegenüber meiner Frau einzugestehen, wie ängstlich, besorgt und zerschlagen ich mich fühle, fällt mir nicht leicht. Obwohl es keinen Grund dafür gibt. Aber so ist das mit tief sitzenden Prägungen. Die haben nichts mit Wissen und Vernunft zu tun. Es braucht bewusste Entscheidungen, um sie zu überwinden, das geht nicht einfach so.

Wobei mich das zum versöhnlichen Abschluss führt: Es tut so gut, wenn ich all die Dinge, die ich oben genannt habe, dann doch tue. Mein Gesamtzustand holt uns heraus aus dem Alltag, der einen als Ehepaar immer wieder verschlucken will, wo man am Ende mehr nebeneinander als miteinander lebt. Das funktioniert nicht mehr. Und so reden wir viel mehr miteinander. Gemeinsames Gebet wird wieder alltäglich. Gerne auch ganz spontan. Wir sind dankbar, dass uns meine schwere Krankheit als Ehepaar wieder neu und enger zusammenführt. Und bin ich dankbar, dass wieder einmal innere Mauern fallen, ich wieder einen Schritt mehr zu mir selber werde und ich auf die Art meine momentane Zerschlagenheit und Zerbrochenheit besser tragen und ertragen kann als es mir bisher möglich war.

 

Beitragsbild: Harold G. Aikman, Library and Archives Canada  – PA133244 via legionmagazine.com