Chronik meiner Leukämie – Vom Segen der Selbstaufgabe
Wie ich schon in meinem letzten Eintrag schrieb, ging es meiner Seele nach der zweiten Chemo gar nicht gut. Erst als ich heim kam, spürte ich, wie sehr nicht nur mein Körper, sondern auch meine Seele unter den Strapazen der vergangenen beiden Monate gelitten hat. Die ganzen Krisen und Härten dieser Zeit haben nicht nur meinen Körper stark in Mitleidenschaft gezogen. Sondern auch meine Seele. Aber das spürte ich lange nicht. Weil meine Seele in Ausnahmesituationen in eine Art „Überlebensmodus“ umschaltet, wo sie einfach nur „funktioniert“.
Ich habe das während meines Zivildienstes beim Roten Kreuz in der Steiermark gelernt. Als Sanitäter ist es ein Muss, im Einsatz einen klaren Kopf zu bewahren und schnell die richtigen Entscheidungen zu treffen. Emotionen sind da keine Hilfe, im Gegenteil. Also habe ich es mir angewöhnt, in kritischen Situationen meine Emotionen auszublenden. Das hat mir auch in meiner Arbeit als Behindertenbetreuer immer wieder sehr geholfen. Es gibt wenig, was ich in 25 Jahren in diesem Job nicht erlebt habe. Es ist enorm hilfreich, wenn man dann nicht die Nerven verliert sondern einfach funktioniert.
Das Problem beim Funktionieren im Überlebensmodus ist, dass es Kraft kostet. Es kostet etwas, die eigenen Emotionen auszublenden. Weil sie damit ja nicht verschwinden. Sondern einfach nur aus der bewussten Wahrnehmung rausgeschoben werden. Wenn man das für einige Stunden oder einige Tage macht, ist das ok. Davon erholt man sich. Wenn man jedoch so wie ich zwei Monate im Überlebensmodus ist, kostet das viel. Viel Kraft, die einem dafür fehlt, mit dem ganzen Irrsinn einer Krebserkrankung zurecht zu kommen.
Panik
Und so setzte nach meiner Rückkehr nach Hause eine namenlose Panik ein. Kleinigkeiten wurden riesengroß, ich entwickelte eine furchtbare Angst, dass mein Krebs sich ausgebreitet hat und jetzt alles vorbei ist. Völlig irrational. Diese Panik hatte zwei Ursachen: Einerseits eine spirituelle – ich bekam in einem ungewöhnlich klaren inneren Bild einen Einblick in das, was sich in der spirituellen Welt um mich abspielte. Dieser Teil löste sich durch Gebet. Eine Viertelstunde, nachdem meine Frau für mich gebetet hatte, war es schlagartig vorbei damit.
Ein anderer, genauso wichtiger Teil, war die völlige Überforderung meiner Seele. Der Überlebensmodus war eine zu große Zusatzbelastung, unter der sie nach meiner Rückkehr aus dem Spital zusammenbrach. So lange man „funktioniert“, hält man sich aus eigener Kraft „zusammen“. Leider kann man damit das Auseinanderfallen nicht verhindern. Man kann es für eine gewissen Zeit hinauszögern. Aber irgendwann kommt der Zusammenbruch. Der ist dann nicht schön. Und führte mich in Zustände hinein, wie ich sie seit meinem schweren Burnout vor 17 Jahren nicht mehr erlebt hatte.
Aufgeben
Meine Rettung aus dieser Situation war, einfach aufzugeben. Nicht mehr zu kämpfen. Nicht mehr zu funktionieren. Es zu akzeptieren, dass meine Seele nur noch ein Häuflein Elend ist. Anzuerkennen, wie sehr mich die letzten beiden Monate mitgenommen haben. Es zuzulassen, dass ich nach zwei harten Monaten auch seelisch mit meinen Kräften am Ende war. Natürlich ändert das nichts daran, dass Gott mich durch die ganzen Strapazen durchgetragen hat. Gleichzeitig bleibt man aber trotzdem ein Mensch mit all seinen Grenzen und Schwächen.
Ich habe erlebt, wie zerbrechlich ich als Mensch bin. Und habe dann wie Hiob innerlich zu Gott geschrien: „Ich habe keine Kraft mehr, um noch länger durchzuhalten. Ich habe kein Ziel vor Augen, das mir Mut machen könnte, meinen Weg weiterzugehen. Ist denn meine Kraft so unerschütterlich wie ein Fels? Ist mein Körper etwa aus Eisen gemacht? Nein, ich bin völlig hilflos, mir ist alles entrissen worden, worauf ich mich stützen könnte.“1Hiob 6,12-14
Das ist das Spannungsfeld, das ich so intensiv erlebe wie noch nie zuvor in meinem Leben. Auf der einen Seite das Vertrauen in Gott und sein Versprechen, dass ich wieder gesund werde. Auf der anderen Seite fühlte ich mich „weichgeklopft“ von den Härten meiner schweren Krankheit und der Therapie, die sie erfordert. Das muss ich beides nebeneinander stehen lassen. Es ist ein „sowohl – als auch“ und eben kein „entweder – oder“. Die Psalmen sind mein Rettungsanker. Weil darin David und die anderen Autoren so ehrlich und ungeschönt ihre Not rausschreien. Aber gleichzeitig auch immer wieder Gott als ihren Schutz und Anker in schwierigsten Situationen erleben. Es ist so wohltuend, dass die Bibel kein „geschöntes“ Buch ist, sondern sehr ehrliche Texte über alle Arten von Tiefen und Abgründen enthält.
Die Kontrolle abgeben
Am Ende geht es für mich darum, mir selbst einzugestehen, wie wenig ich unter Kontrolle habe. Meine Leukämie hat mich aus dem Nichts getroffen wie der berühmte Dachziegel auf den Kopf. Ich habe null Einfluss darauf, wie mein Körper darauf reagiert, wie gut er die Chemos annimmt, und wie er alles rundherum wegsteckt – oder auch nicht. Das eine Mal haben mich Fieberattacken oder Schüttelfrost beinhart niedergestreckt, ein anderes Mal war mir todlangweilig, weil ich mich so gut fühlte dass es hart war, trotzdem im Spital herumzuliegen. Ich kann mich unmöglich am eigenen Schopf aus dem Sumpf meiner schweren Krankheit herausziehen. Und ich kann unmöglich aus eigener Kraft in dem ganzen Wahnsinn zuversichtlich bleiben. Ich wurde in meine Krankheit wie in einen wilden Strudel hineingerissen und komme da mit eigenen Mitteln unmöglich wieder heraus.
Mein Rettungsanker ist das, wozu Gott uns in der Bibel immer, immer wieder auffordert: Hör auf, die Dinge selbst kontrollieren zu wollen. Leg die Kontrolle lieber in die Hände von einem, der unendlich viel größer und stärker ist als du. Jemand, der die Zukunft kennt und der dich durch Dinge durchtragen kann, die du aus eigener Kraft nicht ertragen könntest. Ich habe ja Jesus in mir und an meiner Seite. Also ist es ausgesprochen vernünftig, so zu leben, als ob das auch tatsächlich stimmt. Jesus ist schließlich keine Fantasiegestalt, sondern zutiefst real. Das habe ich zu oft erlebt um es anders zu sehen.
Genau das ist der lebenslange Lernprozess, in dem wir als Nachfolger von Jesus alle stehen. Im „normalen Leben“ kann man das relativ einfach übergehen. Aber nicht, wenn einen die Härten des Lebens voll treffen und man an seine Grenzen kommt. Oder darüber hinaus. Dann noch die Kontrolle behalten zu wollen, ist ein völlig sinnloser Kraftakt. Ein Teil von mir hat das schon lange verstanden. Ich bin von Natur aus ein Mensch, den es nicht aus der Fassung bringt, wenn Dinge anders kommen als gedacht. Einem anderer Teil von mir, der unter anderem dafür sorgt, dass ich in den Überlebensmodus schalte, fällt es immer wieder schwer, loszulassen.
Wer loslässt wird gehalten
Es gibt von Richard Rohr ein Buch mit dem Titel „Wer loslässt wird gehalten“. Ich habe es nicht gelesen, aber der Titel alleine sagt schon alles: Wenn ich mit Jesus gehe, wenn ich ihn an meiner Seite und in mir habe, dann ist es immer wieder die beste Entscheidung, loszulassen und aufzuhören zu versuchen, die Dinge selbst geregelt zu kriegen. Gott zwingt sich niemandem von uns auf, auch mir nicht. Wenn ich ihn nicht ans Ruder lasse, dann wird er es mir nicht aus der Hand reißen. Ich muss dann lediglich die Konsequenzen daraus tragen: Dass ich immer wieder an meine Grenzen stoße und Entscheidungen treffe, die nicht gut sind. Für mich und für andere.
Wenn ich es aber schaffe, loszulassen, dann hat Jesus Platz um mir zu helfen. Und mich zu seiner Lösung hinzuführen. Die oft genug sehr anders und sehr viel besser ist als das, was ich mir vorstellen kann. Das kann auf ganz unterschiedliche Weise passieren. Indem sich Umstände auf unerwartete Weise ändern. Durch Dinge, die mir andere Menschen sagen. Durch Gedanken oder Ideen, von denen ich weiß, dass sie nicht von mir kommen – man lernt über die Jahre, die eigene innere Stimme von der Stimme von Jesus zu unterscheiden. Und immer wieder passieren auch Wunder. Kleine oder große. Und danach ist einiges oder manchmal sogar alles anders.
Und so stehe ich da und lerne. Loszulassen. Immer wieder aufs Neue. Gott zu vertrauen. Mich in seine Arme fallen zu lassen anstatt zu versuchen, stark zu sein. Wer das nie erlebt hat kann sich gar nicht vorstellen, wie befreiend und entlastend das ist. Aber genau das bewirken Lebenskrisen: Es gibt Dinge, die kann man nicht lernen, wenn alles gut läuft. Sondern erst dann, wenn man durch schwierige und schmerzhafte Situationen durch muss. Wenn man an seine Grenzen kommt. Dann ist die beste Entscheidung für mich, loszulassen und mich in Gottes Arme fallen zu lassen. Auch wenn das nicht immer mein erster Gedanke ist. Aber wie gesagt, ich lerne.
Den Gedanken, dass Gott uns solche Dinge „schickt“ um uns „auf die Probe zu stellen“ lehne ich entschieden ab. Wir leben in einer zerbrochenen, von Gott getrennten Welt. Gottes Herrlichkeit können wir darin immer noch sehen. Gleichzeitig kamen mit der Trennung des Menschen von Gott aber auch Leid, Schmerz, Krankheit, Tod und Naturkatastrophen, unter denen wir alle leiden, egal wo wir weltanschaulich stehen. Als Nachfolger von Jesus bin ich davon nicht ausgenommen. Und treffen mich Schicksalsschläge genauso wie jeden anderen Menschen auch.
Gottes Versprechen ist nicht, dass mir alles erspart bleibt. Sondern ein viel größeres: Dass er, egal was passiert, immer an meiner Seite ist und ich durch nichts alleine durch muss. Und, dass er alle Härten und Schicksalsschläge auf eine Art wenden wird, dass ich am Ende nicht zerbrochen, verbittert und frustriert bin. Sondern auf gute Weise verändert. Geduldiger. Barmherziger. Innerlich freier. Dankbarer. Das habe ich schon mehrmals erlebt. Und deshalb vertraue ich darauf, dass es auch bei meiner Leukämie so sein wird: Das ich, wenn ich alles hinterer mir habe, als genau so veränderter Mensch aus dieser Krise hervorgehe.