Chronik meiner Leukämie – Die unglaubliche Vorbereitung
Was mich in der ersten Zeit nach der Diagnose am meisten berührt hat war, dass ich innerlich auf ganz erstaunliche Weise darauf vorbereitet wurde. Besonders in der ersten Zeit hat es mich tief berührt und mit großer Liebe und Dankbarkeit erfüllt, dass ich nicht „einfach so“ ins kalte Wasser geschmissen wurde, sondern auf erstaunliche Art innerlich vorbereitet in diese Zeit hineingehen durfte. Es waren zwei Dinge, mit denen ich mich seit dem Herbst 2023 beschäftigt habe. Das eine war Viktor Frankl, das andere das Buch Hiob. Beides hat mich sehr verändert und ohne das, was ich daraus gelernt habe, hätte ich die vergangenen Monate bei weitem nicht so gut überstanden.
Teil 1 – Viktor Frankl
Ich habe einen pensionierten Kollegen, der leidenschaftlicher Büchersammler ist. Er drängte mir schon länger zwei Bücher von Viktor Frankl förmlich auf. Mein Interesse daran war nicht wahnsinnig groß, aber als wir uns im Sommer 2023 wieder einmal trafen, brachte er mir neben anderen Büchern auch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ mit. Eine Uralt-Ausgabe von Jugend und Volk aus dem Jahr 1947, die noch unter dem Titel „Ein Psycholog erlebt das KZ“ veröffentlicht wurde. Frankls Berichte aus seiner KZ-Haft sind berührend und erschütternd. Was mich aber förmlich aus den Schuhen geblasen hat, war sein Zugang zu seiner furchtbaren Situation. Der Abschnitt, der mich am meisten getroffen hat, ist ab Seite 108 zu finden:
„Was hier not tut, ist eine Wendung in der ganzen Fragestellung nach dem Sinn des Lebens: Wir müssen lernen und die verzweifelten Menschen lehren, dass es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben zu erwarten haben, vielmehr darauf, was das Leben von uns erwartet. Zünftig philosophisch gesprochen, könnte man sagen, daß es hier also um eine Art kopernikanische Wendung1Die Kopernikanische Wende war die Abkehr von einem Weltbild, das die Erde und nicht die Sonne als Mittelpunkt des Sonnensystems sieht geht, so zwar, daß wir nicht mehr einfach nach dem Sinnn des Lebens fragen, sondern daß wir uns selbst als die Befragten erleben, an die das Leben täglich und stündlich Fragen stellt – Fragen, die wir zu beantworten haben, indem wir nicht durch ein Grübeln und Reden, sondern nur durch ein Handeln, ein richtiges Verhalten, die rechte Antwort geben. Leben heißt letztlich eben nichts anderes als: Verantwortung tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die innere Erfüllung der Aufgaben, die jedem einzelnen das Leben stellt, für die Erfüllung der Forderung der Stunde“
Diese Aussage hat mich tief getroffen. Vor allem deswegen, weil sie eben nicht von einem klugen Kopf am Schreibtisch in seinem warmen Büro stammt, sondern von einem Menschen, der die brutale Lagerhaft im KZ überlebt hat, und der an anderer Stelle dieses Buches schreibt, dass es genau diese Haltung war, die für sein Überleben entscheidend war. Sie führte in mir selbst tatsächlich zu einem völligen Umdenken. Zeit meines Lebens hat mich häufig die Frage nach dem „Warum“ gequält. Gelegenheiten dafür gab es viele. Ich bin in den mittlerweile gar nicht mehr so wenigen Jahren meines Lebens durch viele Härten, Krisen und Herausforderungen gegangen. Die harten Jahre überwiegen zumindest bis jetzt die guten Jahre in meinem Leben deutlich. In meiner dritten Predigt über Hiob erzähle ich ein wenig darüber (siehe ganz unten).
Und nun schreibt da jemand, den das Schicksal auf eine der härtesten Weisen und völlig unverdient getroffen hat, dass es im Leben eben nicht darum geht, herumzuhadern und in meinem Fall Gott anzujammern und mit ihm herumzudiskutieren, warum dieses oder jenes sein musste und warum er mich nicht vor dieser oder jener Situation bewahrt hat. Ich war viele Jahre sehr gut in meiner Opferrolle. Sondern darum, wie ich mich in solchen Situationen entscheide. Ob ich mich für die Opferrolle entscheide und mir damit selbst meinen Wert und meine Würde nehme. Oder ob ich mich dafür entscheide, auch in schwierigen Situationen meine „Menschlichkeit“ zu bewahren. Also die innere Freiheit, mich nicht unterkriegen zu lassen. In meinem Fall: Auch in harten Situationen Gott zu vertrauen und nicht an ihm zu zweifeln. Weil er ja immer da ist und uns in der Bibel fix zugesagt hat, dass er uns auch in den fürchterlichsten Situationen nicht verlassen wird.
An anderer Stelle schreibt Frankl über die Wichtigkeit dieser inneren Entscheidung:
„Wer von denen, die das Konzentrationslager erlebt haben, wüßte nicht von jenen Menschengestalten zu erzählen, die da über die Appellplätze oder durch die Baracken des Lagers gewandelt sind, hier ein gutes Wort, dort den letzten Bissen Brot spendend? Und mögen es auch nur wenige gewesen sein – sie haben die Beweiskraft dafür, daß man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur eines nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein „So oder so“! Und jeden Tag und jede Stunde im Lager gab es tausendfältige Gelegenheit, diese innere Entscheidung zu vollziehen, die die Entscheidung des Menschen für oder gegen den Verfall an jene Mächte der Umwelt darstellt, die dem Menschen sein Eigentlichstes zu rauben drohen – seine innere Freiheit – und ihn dazu verführen, unter Verzicht auf Freiheit und Würde zum bloßen Spielball und Objekt der äußeren Bedingungen zu werden und sich von ihnen zum „typischen“ Lagerhäftling umprägen zu lassen.
[…]
Grundsätzlich erweist sich das, was mit dem Menschen innerlich geschieht, was das Lager aus ihm als Menschen scheinbar „macht“, als das Ergebnis einer inneren Entscheidung. Grundsätzlich kann also jeder Mensch, und auch noch unter solchen Umständen, irgendwie entscheiden, was – geistig gesehen – im Lager aus ihm wird: Ein typischer „KZler“ – oder ein Mensch, der auch hier noch Mensch bleibt und die Menschenwürde bewahrt. (Seite 92-93)
Und:
„Die meisten Menschen im Konzentrationslager glaubten, die wahren Möglichkeiten der Verwirklichung seien dahin – und in Wirklichkeit bestand sie eben darin, was einer aus dem Leben im Lager machte – ein Vegetieren, so wie die Tausenden von Häftlingen, oder aber, so wie die Seltenen und Wenigen, ein inneres Siegen…“ (Seite 102)
Bei mir führte das zu einer völligen Wendung in meiner inneren Haltung. Für mich ergibt heute die Frage nach dem „Warum?“ im Leben überhaupt keinen Sinn mehr. Heute ist für mich das versammelte Leiden in der Welt (einschließlich meinem eigenen), also Schmerz, Krankheit und Tod genauso wie Naturkatastrophen das, was ich den „Preis der Freiheit“ nenne. Wir Menschen wollten frei sein von Gott, wir wollten – obwohl wir von ihm alles im Überfluss hatten – mehr und so sein wie er. Diese Freiheit haben wir bekommen. Aber zu einem hohen Preis. Seit wir Menschen Gott das Ruder aus der Hand genommen haben und nun schalten und walten wie wir es wollen, sieht die Welt so aus wie sie aussieht. Und wir alle, also auch ich, werden von Härten und Schicksalsschlägen getroffen, egal ob wir die „bravsten Christen“ oder die übelsten Wüstlinge sind.
Viktor Frankl hat mir etwas ganz entscheidendes aus der Bibel zugänglich gemacht: Nämlich, das Leid immer Teil des Lebens auf diesser Welt sein wird. Und dass es, wenn mich das Leid trifft, immer um die ganz persönliche Frage geht: Wie gehe ich damit um? Was ist meine Antwort darauf? Lasse ich mich zum Opfer machen und mir damit meinen Wert und meine Würde rauben? Dabei ist es bedeutungslos, ob ich mich im kleinen Rahmen als Opfer persönlicher Umstände oder anderer Menschen sehe, oder im großen als Opfer der (Welt)politik, des „Systems“ oder von „denen da oben“. Oder entscheide ich mich, dass ich mir meine „Menschlichkeit“ eben nicht rauben lasse und mich der Herausforderung stelle? Paulus schreibt im Römerbrief (Kapitel 5, Werse 3-5) dazu:
„Wir freuen uns auch dann, wenn uns Sorgen und Probleme bedrängen, denn wir wissen, dass wir dadurch lernen, geduldig zu werden. Geduld aber macht uns innerlich stark, und das wiederum macht uns zuversichtlich in der Hoffnung auf die Erlösung. Und in dieser Hoffnung werden wir nicht enttäuscht werden.“
Ich verstehe das so: Wenn mich die Härten des Lebens treffen, geht es einzig und allein um folgende Frage: Lasse ich mich davon unterkriegen und zerbreche ich daran? Oder bemühe ich mich darum, „menschlich“ zu bleiben, mich nicht zum Opfer machen zu lassen und dadurch geduldiger, barmherziger und damit innerlich stärker zu werden?
Das ist für mich kein theoretisches Larifari. Ich bin wie gesagt schon vor meiner Leukämie durch einige harte Zeiten durch. Mit Gottes Hilfe bin ich – so schwer es zwischendurch auch war, und so sehr ich Gott manchmal verflucht habe, wenn ich ganz unten war – aus diesen ganzen Schwierigkeiten barmherziger, bescheidener und innerlich stärker und gelassener hervorgegangen. Und so erlebe ich das auch jetzt während der Leukämie: Ich war schon einige Male völlig am Boden, konnte und wollte nicht mehr. Zum Glück waren das bisher nur kurze Abschnitte. Wenn ich mich genau dann aber nicht von Gott abwende, sonder ihm zuwende und ihn um seine Hilfe bitte, dann habe ich jedes Mal erlebt, wie ich emotional von ihm getragen werde. Es ging mir dann um nichts besser. Aber es war jedes Mal, ohne Ausnahme, jemand da, der in meinem Innersten mein Leiden mit mir trug und damit verhinderte, dass ich daran zerbrach. Ich weiß, solche inneren emotionalen Erlebnisse sind nur schwer in Worte zu fassen und ich weiß nicht, ob ich mich hier für jeden verständlich ausdrücke. Bessere Worte finde ich leider nicht dafür.
Teil 2 – Hiob
Das Buch Hiob hat mich seit meinen 20ern fasziniert. Es ist kein einfaches Buch und man kann es auf vielerlei Arten missverstehen. Ich habe z.B. vor vielen Jahren das Stück „Hiob“ von Norberto Bertassi gesehen, der insofern am Thema gescheitert ist, als er in seinem Stück im Leid stecken blieb und nicht weiter ging in die Schlusskapitel des Buches, wo die tiefe Gottesbegegnung Hiobs zu seiner Heilung und Wiederherstellung führt. Ich glaube nicht, dass er mit diesem Scheitern alleine ist, viele sehen im Buch Hiob nur das Leid und nicht die Auflösung.
Man kann Gott auch vorwerfen, ein bösartiger Zyniker zu sein, weil er Hiob „einfach so“ dem Satan überlässt, der ihm alles nehmen und seine Existenz komplett zerstören darf. Man kann sich an den elendslangen Dialogen stoßen, die einer Kultur von vor etwa 2.800 Jahren entspringen, wo man halt auf diese Art diskutiert hat. Das Buch ist in mehrerer Hinsicht rätselhaft, weil es sich den simplen schwarz-weiß-Antworten, die wir so gerne hätten, konsequent verweigert. Aber genau das macht für mich seine Faszination aus.
Ich habe mich das erste Mal 2008, während meines schweren Burnouts, intensiver mit Hiob beschäftigt. Das Buch „Von Gott enttäuscht“ von Philipp Yancey bezieht sich ganz stark darauf. Meine Lektion daraus war, dass Leiden ein unvermeidbarer Teil des Lebens ist und uns vor die Frage stellt, wie wir damit umgehen und ob wir bereit sind, daraus zu lernen um geduldiger und innerlich stärker zu werden. Also inhaltlich sehr ähnlich zu Frankl, aber scheinbar ist genau das über die Jahre in meiner Erinnerung verblasst.
Was sehr wohl hängen gebliegen ist, ist dass wir es als Menschen aushalten müssen, nicht auf alles eine Antwort zu bekommen, weil wir die Antwort nicht verstehen könnten. Auf gut Deutsch würde ich Gottes Antwort auf Hiobs Klagen und Vorwürfe ungefähr so formulieren: Hiob, du hast keine Ahnung, was wirklich abgeht, also hör auf herumzudiskutieren, weil es für dich sowieso unbegreiflich ist und vertrau mir stattdessen einfach.
Für den stolzen, aufgeklärten „Westler“ ist das eine zutiefst demütigende, um nicht zu sagen beleidigende Antwort. Weil wir seit der Aufklärung davon überzeugt sind, dass unser in Wirklichkeit ziemlich begrenzter Verstand das Maß aller Dinge ist, der auf alles, alles eine Antwort finden kann, wenn er sich nur lang genug anstrengt. Ich sehe das deutlich anders und entspannter. Mir ist schon lange klar, dass wir als Menschen ziemlich begrenzte Wesen sind. Und dass unser westliches Denken und unser westlicher Lebensstil keineswegs das Nonplusultra darstellen. Deshalb finde ich diese Antwort Gottes einfach nur gesunden Realismus. Am Ende tut es uns allen gut, wenn unser Übermut von Zeit zu Zeit auf ein gesundes Maß zurechtgestutzt wird. Aber das nur nebenbei.
Im Herbst 2023 ist das Buch Hiob in meinen Gedanken wieder „aufgepoppt“ und ich habe es wieder zu studieren begonnen. Dabei sind mir vier Themenbereiche aufgefallen: Dass Leiden unvermeidlich ist. Dass wir mit Gott gegen jede Vernunft trotzdem hoffen können. Dass es in Wirklichkeit um viel mehr geht als wir begreifen können. Und dass am Ende die Wiederherstellung und Aussöhnung steht. Zu all diesen Themen habe ich erste Gedanken notiert – die fertigen Predigten sind ganz unten zum Anhören verlinkt. Damals war noch keine Rede davon, dass die Vineyard Wien nächsten Sommer schließen wird. Und dass mich im Herbst darauf die Leukämie treffen wird. Der Hauptgrund, warum ich darüber predigen wollte, war: Jede Kirche braucht ein gesundes Verständnis von Leid. Für uns als Christen ist es wirklich wichtig, dass wir eine biblische Sicht auf dieses Thema haben, damit wir auf gute Weise damit umgehen können, wenn es uns persönlich trifft.
Ich habe mich viele Wochen auf diese Predigtreihe vorbereitet. Mir viele Gedanken gemacht. Das Thema ist viel zu ernst, das kann man nicht einfach so hinschludern. Ich wollte etwas wirklich solides abliefern – so weit mir das als Nicht-Theologe möglich ist. Viele Dinge haben mich dabei fasziniert:
Die Hoffnung und das Gottvertrauen, das mitten in seinen bitteren Klagen aus Hiob herausbricht. Siehe:
Ganz anders Hiobs Freunde: Ihre Antworten waren theoretisch-theologisch zwar „korrekt“. Aber ihre Welt war viel zu einfach. Sie folgten einem simplen Schwarz-Weiß-Denken, das unserer komplizierten, vielschichtigen Wirklichkeit unmöglich gerecht werden kann. Sie hatten genausoweing Ahnung davon, was sich im Hintergrund abspielte, wie Hiob. Und trotzdem redeten sie gescheit daher. Und behaupteten ständig, dass Hiob ja doch irgendwie Schuld auf sich geladen haben musste, weil sonst kann es ja nicht sein, dass ihn so ein Unglück trifft. Obwohl das laut der Bucheinleitung nicht stimmt. Wobei: Wie schnell sind wir selbst oft mit vorschnellen Erklärungen…
Was mich am tiefsten berührt hat, ist jedoch Gottes Antwort an Hiob. Ja, er ist ihm entschieden entgegengetreten. Er hat ihm klar vor Augen geführt, wie wenig er verstehen und erfassen kann. Aber dabei ist er nicht stehen geblieben. Er hat ihm auch seine Größe und Herrlichkeit gezeigt. Und das hat für Hiob alles verändert. Am Ende sagt er: „Jetzt habe ich dich, Gott, von Angesicht zu Angesicht gesehen!“ Das, wonach er sich in Kapitel 19 so gesehnt hat, hat er am Ende des Buches tatsächlich erlebt.
Meine Schlussfolgerung daraus ist: Wenn ich Gott wirklich begegne, dann lösen sich alle Fragen auf. Wenn ich ihn habe, brauche ich keine Antworten mehr. Denn seine Gegenwart ist so überwältigend schön und großartig, dass alles andere daneben bedeutungslos wird. Es gibt das in meinen Ohren etwas kitschige Lied „Turn Your Eyes Upon Jesus“. Ein alter Hymnus von 1922. Der Refrain berührt mich aber tief. Denn dort heißt es:
„Turn your eyes upon Jesus. Look full in his wonderful face. And the things on eart will grow strangely dim in the ligth of his glory and grace“ Auf deutsch: „Richte deine Augen auf Jesus. Schau tief in sein wundervolles Angesicht. Und die irdischen Dinge werden seltsam verblassen im Licht seiner Herrlichkeit und Gnade“.
Das ist inhaltlich volley übernommen von Paulus aus 2. Korihtner 3,18, wo er schreibt (HFA): „Wir alle aber stehen mit unverhülltem Gesicht vor Gott und spiegeln seine Herrlichkeit wider. Der Herr verändert uns durch seinen Geist, damit wir ihm immer ähnlicher werden und immer mehr Anteil an seiner Herrlichkeit bekommen.“
Gottes Gegenwart verändert alles. Wenn wir sie intensiv erleben, sind wir danach nicht mehr die selben, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Immer wieder sagen Christen: Wenn ich tot und bei Gott bin, dann werde ich ihn alles mögliche fragen, was mich hier so beschäftigt und worauf ich keine Antwort habe. Ich bin mir nicht so sicher, ob das so sein wird. Ich vermute eher, dass diese ganzen Fragen dann, wenn wir bei Gott sind und nichts mehr zwischen ihm und uns steht, bedeutungslos werden. Gut möglich, dass wir die Antworten trotzdem bekommen werden. Aber sie werden bei weitem nicht mehr die Wichtigkeit haben, die wir ihnen jetzt geben. Weil ein Leben in ungetrübter Gemeinschaft mit Gott in einer Welt ohne Tod, Leid, Krankheit und Naturkatastrophe so wunderschön und großartig sein wird, dass alle Dinge, die uns hier in dieser Welt so beschäftigen, daneben völlig verblassen werden.
Was für mich so spannend war, was aus dieser Predigtreihe dann wurde. Erstens war sie die letzte Predigtreihe der Vineyard Wien und hat uns durch den Schmerz und die Trauer über das Ende dieser Kirche durchgetragen. Das war im Dezember 2023 überhaupt nicht absehbar. Und zweitens hat sie mich persönlich viel tiefer verändert als jede andere meiner Predigten davor. Jede Predigt, die man schreibt, macht auch etwas mit einem selber. Man predigt nie nur für die anderen, sonder immer auch zu sich selber, das geht gar nicht anders. Dadurch, dass ich mich mit dem Buch Hiob aber nicht nur ein bis zwei Wochen, sondern über mehrere Monate beschäftigt habe, ist das viel tiefer gegangen als sonst. Und hat meinen Blick auf Gott und das Leben stark verändert.
Wie ich schon sagte: Die Frage nach dem „Warum?“ ergibt für mich keinen Sinn mehr. Nicht nur wegen Frankl, sondern auch deswegen, weil ich verstanden habe, dass uns Menschen vieles, was sich im Hintergrund abspielt, einfach nicht zugänglich ist. Weil wir es weder begreifen noch verstehen können. Deshalb halte ich es für ausgesprochen vernünftig, Gott zu vertrauen, weil er alles zu einem guten Ende bringen wird. Auch wenn es uns hier und jetzt noch so unverständlich oder unmöglich erscheint. Auch das habe ich schon mehrfach erlebt.
Mir ist seltsamerweise noch viel klarer geworden, dass Gott immer gut ist. Hiob wurde ja auch nicht einfach nur ins Elend katapultiert, sondern hatte am Ende eine tiefe Begegnung mit Gott und wurde mit noch viel mehr beschenkt als er vorher besaß. Und er söhnte sich auch mit seinen Freunden wieder aus.
Und mir ist auch noch viel klarer geworden, dass das Erleben von Gottes Nähe und Gegenwart viel, viel besser ist als freundliche Lebensumstände. Ich bin ja schon geschult im Leiden. Ich bin schon vor meiner Leukämie durch mehrere schwere Krisen durch. Das hat sicher geholfen. Und trotzdem ist mir noch einmal klarer geworden, dass ich Gott viel mehr brauche als ein „schönes Leben“. Ich habe es ja erlebt im Spital während und nach der Chemo. Wenn der Körper und die Seele am Ende sind, helfen einem nette Sprüche, eine hübsche Wohnung und ein feines Rennrad nicht mehr weiter. Da braucht man etwas handfesteres. Und das habe ich in Gottes Gegenwart bekommen. Immer. Zu spüren, wie Gott es möglich macht, in solchen Situationen innerlich nicht einzugehen unter der Last, hat mich tief berührt. Wenn man diese Art von Liebe und Zuwendung erlebt, kann man innerlich nur mit Liebe und Dankbarkeit darauf reagieren, das geht gar nicht anders.
Viel Trost und innerliche Stärkung habe ich auch in den Psalmen gefunden. Wenn es einem hundeelend geht, liest man den Psalm 23 zum Beispiel sehr anders als sonst. In der Not braucht man einen guten Hirten, der einen durch das „dunkle Tal des Todes“ trägt, sehr viel notwendiger als wenn eh alles paletti ist. Aber auch in anderen Psalmen habe ich viel Trost gefunden. Die Psalmen sind ja unglaublich lebensnahe Lieder und Gedichte. Den Psalmisten ist nichts menschliches fremd. Sie sprechen ihre Not und ihren Schmerz direkt und ungeschönt an. Und finden am Ende doch immer wieder den Weg zurück zu Gott und zum Blick auf ihn, der alles andere daneben klein werden lässt. Genau so habe ich das auch erlebt. Mein Leid war damit nicht auf wundersame Weise „weggezaubert“. Es ist mir immer noch schlecht gegangen. Aber ich habe mich in meiner Not getragen gefühlt von jemandem, der größer und stärker ist als ich. Und das hat sehr, sehr gut getan.
Im Rückblick tut es mir leid, dass ich es erst jetzt schaffe, diesen Text niederzuschreiben. Im Herbst war mir vieles emotional noch viel näher und präsenter. Ich war noch nicht so abgeklärt, weil ich im Gegensatz zu jetzt noch nichts in der Hand hatte, das meine Hoffnung und Zuversicht hätte bestätigen können. Ich stand damals vor dem großen Unbekannten. Und war tief berührt davon, dass und wie Gott mich über ein Jahr für dieses große und bedrohliche Unbekannte innerlich vorbereitet hat. Natürlich berührt es mich noch immer. Aber nicht mehr so unmittelbar, es ist alles nicht mehr so frisch wie damals. Aber gut, ich hatte während meiner ersten und zweiten Chemo wirklich wenig Kraft und Energie. So einen langen und ausführlichen Text hätte ich in diesem Zustand einfach nicht geschafft.
Ich hoffe, ihr könnt euch trotzdem etwas daraus mitnehmen. Mir ist es wirklich wichtig, dass ihr versteht, dass ich nicht „einfach so“ mit meiner ganzen Erkrankung umgehen kann. Dass Gott mich auf so erstaunliche Weise vorbereitet hat, ist ein ganz wichtiger Teil davon. Meine Geschichte mit der Krankheit handelt nicht davon, was für ein toller Typ ich nicht bin, weil ich so „toll“ oder „vorbildlich“ damit umgehe. Sondern vor allem davon, dass es einen erstaunlichen Gott gibt, ohne den es mir niemals möglich gewesen wäre, durch die bisherigen Härten so durchzugehen. Ich weiß, es gibt Menschen, die haben aus sich selbst heraus die dafür nötige innere Stärke. Ich kenne mich seit 55 Jahren, deshalb weiß ich, dass ich sie nicht habe.
Mir fällt bei der Gelegenheit immer eine ziemlich herausfordernde Geschichte von Jesus ein, wo er sagt:
Lukas 17,7-10: Wenn ein Knecht vom Pflügen oder Schafehüten zurückkommt, setzt er sich nicht einfach hin und isst. Zuerst muss er seinem Herrn das Abendessen zubereiten und ihn bedienen, bevor er sein eigenes Abendbrot verzehrt. Und der Knecht hat dafür noch nicht einmal Dank zu erwarten, denn er tut nur seine Pflicht. Wenn ihr mir gehorcht, sollt auch ihr sagen: ›Wir haben keine besondere Anerkennung verdient. Wir sind Diener und haben nur unsere Pflicht getan.‹
Darin kann ich mich sehr gut wiederfinden. Ich sehe mich selbst überhaupt nicht als jemand „Besonderer“. Im Gegenteil. Ich versuche einfach nur, so gut es mir möglich ist, meinen Weg entsprechend meinem Glauben und meinen Überzeugungen zu gehen. Das gelingt mir zeitweise besser und zeitweise schlechter. Und wenn es mir gelingt, dann weiß ich, wem ich das zu verdanken habe, und das bin auf keinen Fall ich selber. Sondern mein wunderbarer Gott, der mir Sachen möglich macht, die ich aus meinen sehr begrenzten eigenen Möglichkeiten niemals vollbringen könnte.
Die Predigten:
Natürlich konnte ich nur bruchstückhaft wiedergegeben, worüber ich in meinen Hiob-Predigten gesprochen habe. Wenn es euch interessiert, könnt ihr euch alle vier hier anhören:
- 05. Mai 2024 – Helmut Resch: Hiob 01 – Leiden ist unvermeidlich
- 19. Mai 2024 – Helmut Resch: Hiob 02 – Hoffnung gegen alle Vernunft
- 02. Juni 2024 – Helmut Resch: Hiob 03 – Es geht um so viel mehr
- 16. Juni 2024 – Helmut Resch: Hiob 04 – Aussöhnung
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