Staat oder Privat oder was?

Unlängst habe ich von unerwarteter Seite einen provokanten Text gelesen. Von einem Bekannten von mir, Amerikaner, und eigentlich nicht in der Ecke der Rechtskonservativen daheim. Er schrieb sinngemäß: Was, wenn wir wieder eigenverantwortlich handeln und unser Wohergehen nicht mehr vom Staat abhängig machen? Was, wenn wir in der Nachbarschaft die Initiative ergreifen, füreinander sorgen, uns um die Bedürftigen kümmern? Wenn Kirchen und Nachbarschaftsinitiativen aktiv werden und das übernehmen, was wir gerne dem Staat übertragen würden? Und wenn wir so wieder herausfinden aus der Passivität und Isolation, und wieder echte Gemeinschaft leben und erleben?

Ein wirklich provokanter Gedanke. Und ja, ich habe dem spontanen Impuls widerstanden, das sofort wieder als typisch Neoliberales Geplärr zur Seite zu schieben und halt typisch Amerikanisch, weil dort ja keine Solidarität gelebt wird und überhaupt. Ich kenne die Person ja, die das schrieb, ich weiß, dass die eben nicht in diese Ecke gehört, und das hat mich zum Nachdenken gebracht.

Die traditionell Europäische Antwort darauf wäre, auf das Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft zu verweisen, das uns nicht nur großen Wohlstand, sondern auch sozialen Frieden und soziale Sicherheit gebracht hat. Ein Modell, das geprägt ist von einem zutiefst solidarischen Denken, wo es Pflicht und Verantwortung des Einzelnen ist, die Schwachen mitzutragen. Bei uns geschieht das über diverse soziale Unterstützungen und Beihilfen, die vom Staat über die eingehobenen Steuern finanziert werden. Und genau da hakt diese Kritik ein, die sagt: Schön und gut, dass ihr in Europa so toll für die sozial Schwachen sorgt, aber ihr habt euch schön aus eurer persönlichen Verantwortung freigekauft. Ihr interessiert euch nicht mehr, wie es euren Nachbarn, den Armen und Bedürftigen in Eurem Umfeld geht, weil ihr das alles fein an den Staat delegiert habt, damit ihr Euch die Hände nicht mehr schmutzig zu machen braucht. Oha! Von wegen Neoliberal. Diese Kritik kommt aus einer ganz anderen Richtung!

Ich kenne die USA nicht wirklich, ich weiß nur grob, dass dort eine völlig andere Wohltätigkeitskultur herrscht als bei uns. Und ich weiß, dass sowohl drüben als auch bei uns die dahinter stehenden Werte am Erodieren sind. Kein Grund, mit dem Finger aufeinander zu zeigen. Ich weiß nicht, ob die US-Amerikanische Tradition und Kultur so ohne weiteres auf uns übertragbar ist. Aber ich frage mich schon, ob diese Kultur nicht auch bei uns ein Gewinn wäre. Und ob die Kritik nicht doch berechtigt ist, dass unser Sozialstaat uns voneinander entfremdet hat, und wir uns tatsächlich in einer Art neuem Biedermeier daheim einigeln und von den unerfreulichen Dingen da draußen und einer Welt, die uns zunehmend verwirrend und kompliziert erscheint, auszuklinken?

Nein, ich will keinesfalls unserne Sozialstaat abschaffen, ich bin weit genug herumgekommen in der Welt um gesehen zu haben, welcher Segen der ist und wie gut es uns im Vergleich zu den meisten anderen Ländern geht. Aber vielleicht wäre es ja doch wieder an der Zeit, sich auch selbst wieder die Hände schmutzig zu machen? Gerade war ein Bettler bei uns in der Kirche, der uns mit einer erfundenen Geschichte etwas herausgelockt hat. Ok, Lektion gelernt. Nein, ich bin deswegen nicht enttäuscht oder verbittert. Der Mann war so offensichtlich bedürftig, dass es mir nicht leid ist um das Geld. Und er zeigt uns allen etwas: Dass es vor unserer Haustüre reale Not gibt. Menschen, die Winterjacken stehlen, damit sie in den bitterkalten Frostnächten die wir hatten nicht erfrieren. Da sind wir gefordert. Da können wir nicht wegschauen. Lassen wir uns darauf ein?