Viel wird in der Diskussion ums Impfen gestritten, gekämpft, man prügelt mit Argumenten aufeinander ein, die Emotionen gehen hoch. Nein, mir ist es nicht gelungen, mich da immer rauszuhalten. Aber gerade deswegen möchte ich das Thema einmal von einer ganz anderen Seite her beleuchten.

Mein Vater wurde 1926 geboren, meine Mutter, die noch lebt, ist Jahrgang 1936. Ich habe also eher „alte“ Eltern. Beide haben ihre Kindheit und Jugend in den 1930ern und 40ern verbracht, also in einer Zeit, in der es noch keine Impfungen und keine Antibiotika gab. Sie haben es noch bewusst miterlebt, wie die Welt damals aussah, und was es bedeutete, ohne die Möglichkeiten der „Schulmedizin“, wie sie von Gegnern herablassend genannt wird, auskommen zu müssen.

Von meinem Vater habe ich viele Geschichten darüber gehört, wie normal es früher war, dass Menschen krank waren und früh starben. Er erzählte mir von den kinderreichen Familien seiner Elterngeneration, wo es die Ausnahme war, dass alle Kinder das Erwachsenenalter erlebten. Viele verloren nicht nur ein, sondern mehrere Kinder durch Krankheiten wie Keuchhusten, Diphterie oder Tetanus. Kinderlähmung (Polio) war ebenfalls eine gefürchtete Krankheit, jeder kannte Menschen, bei denen nach einer Kinderlähmung lebenslange körperliche Einschränkungen zurückgeblieben waren. Eine Cousine von ihm, die wir als Kinder oft besucht haben und die jetzt Anfang 80 ist, hat – weil damals noch nicht dagegen geimpft werden konnte – als Folge einer Knochentuberkolose eine stark verkrümmte Wirbelsäule. Sie lag als Kind viele Monate im Gipskorsett im Spital, um weiteren Schäden vorzubeugen.

Dazu kam, dass ohne Antibiotika zum Beispiel eine Lungenentzündung nicht nur für alte Menschen eine gefährliche und langwierige Erkrankung war. Für Kinder bedeutete eine Ohrenentzündung mehrwöchige heftige Schmerzen. Wenn sie zu eitern begann, mussten Trommelfell oder der Schädelknochen hinter dem Ohr geöffnet werden, um den Eiter abfließen zu lassen. Jede entzündete Wunde war potenziell gefährlich, ohne Antibiotika war ständig die Gefahr da, dass sich daraus eine lebensgefährliche Sepsis entwickelte.

Meine Mutter hat als Kind – weil es damals keine Antibiotika gab – als Folge einer Scharlacherkrankung auf einem Ohr ihr Gehör verloren. Danach litt sie jedes Jahr unter einer schmerzhaften Mittelohrentzündung. Für sie war die Einführung von Antibiotika ein Segen, nach einer einmaligen Behandlung mit Streptomycin verschwand die bis dahin immer wiederkehrende Ohrenentzündung für immer.

Für mich ist das der Grund, warum unserer Eltern- und Großelterngeneration die heutige Skepsis gegenüber der modernen Medizin völlig fremd war. Warum? Weil sie noch selbst eine Welt erlebt hatten, in denen es deren Möglichkeiten nicht gab, und weil sie sahen, wie viel Leid und Schmerzen ihnen selbst und ihren Kindern durch die moderne Medizin erspart blieb. Ihre Dankbarkeit für die moderne Medizin speiste sich nicht aus einer aus heutiger Sicht als naiv empfundenen Fortschrittsgläubigkeit der 1950er und 60er-Jahre, sondern aus der persönlichen Erfahrung, wie sehr sich das Leben dadurch zum Besseren verändert hatte.

Nun ist es natürlich richtig, dass die moderne Medizin auch ihre Schattenseiten hat. Ihr Kardinalfehler war, den Menschen nur als „Apparat“ zu begreifen, und sich ausschließlich auf die rein körperlichen Probleme zu konzentrieren, weil man alles andere als nicht messbar und damit nicht relevant betrachtete. Was das betrifft ist die moderne Medizin tatsächlich in die Irre gegangen, obwohl dieser Fehler schon Ende der 1980er erkannt wurde, und in den 1990ern erste Schritte getan wurden, um das zu korrigieren. Die Psychosomatik hat sich als Forschungsgebiet etabliert, und gerade bei schweren und chronischen Erkrankungen wird immer mehr auf seelische Unterstützung und Begleitung geachtet – auch wenn dort sicherlich noch Luft nach oben ist.

Oft wird den Pharmafirmen „Geschäftemacherei“ vorgeworfen, wenn es um moderne Medikamente geht. Dabei werden allerdings ein paar Dinge übersehen: Viele Medikamente und Impfungen sind bei weitem nicht so teuer wie angenommen, mit der Behandlung langwieriger Folgen von Krankheiten aufgrund fehlender Impfungen ließe sich mehr verdienen. Auf der anderen Seite ist die Alternativmedizin genauso ein „Milliardenbusiness“, in dem sich sehr viel Geld verdienen lässt. Nicht nur für die Hersteller. Auch für die Apotheken ist die Alternativmedizin ein sehr gutes Geschäft und ein wichtiges wirtschaftliches Standbein, auf das man dort nur ungern verzichten will. Nun ist es nichts an sich verwerfliches, wenn Firmen Geld verdienen wollen. Damit zahlen sie ja nicht nur die Löhne ihrer Mitarbeiter, sondern auch ihre Steuern, und können Geld in die Entwicklung neuer Dinge investieren. Es ist bloß nicht so, dass nur die „böse“ Pharmaindustrie von finanziellen Interessen getrieben ist. Besonders Nahrungseränzungsmittel sind ein Riesengeschäft, wo sich mit geringem Aufwand viel Geld verdienen lässt.

Mein Eindruck ist, dass die immer größer werdende Skepsis gegenüber der modernen Medizin sich ganz wesentlich daraus speist, dass wir alle nicht mehr wissen, wie eine Welt ohne deren Möglichkeiten ausgesehen hat. Wir kennen nur mehr den Ist-Zustand, wir wissen nicht mehr, was alles nötig war und getan wurde, um ihn zu erreichen. Ich habe den Eindruck, dass aus der berechtigten Kritik an der modernen Medizin in Bezug auf ihr Menschenbild eine Gegenbewegung entstanden ist, die irgendwann den Bereich des Vernünftigen verlassen hat. Da wird dann gewettert gegen Aluminium und Quecksilber in Impfungen, während die gleichen Menschen kein Problem damit haben, täglich mehrere Gramm des giftigen Metalls Natrium und des chemischen Kampfstoffes Chlor zu sich zu nehmen – die uns in Form von Kochsalz interessanterweise überhaupt nicht schaden, sondern in geringen Mengen (ja, deutlich weniger als wir im Westen normalerweise zu uns nehmen) sogar lebenswichtig sind. (Lebensmittel-)Chemie ist nicht immer so simpel, wie uns manche glauben lassen wollen. Auch der hochgiftige Phosphor, den mein Vater in Form der gefürchteten Brandbomben im Krieg erlebt hat, ist für uns lebenswichtig.

Übrigens: Nicht nur die „böse Schulmedizin“, sondern auch Alternativmediziner produzieren Opfer. Die Lebenspartnerin eines guten Bekannten von mir, die die Liebe seines Lebens war, starb, weil sie von Ryke Geerd Hamer „behandelt“ wurde, als dieser noch in Amt und Würden und in seinen Kreisen sehr angesehen war. Ihr Vater nahm sich einige Jahre danach das Leben. Auch diese Dinge geschehen.

Die Generation, die uns noch erzhählen kann, wie die Welt ohne moderne Medizin aussah, ist mittlerweile über 80 Jahre alt. Noch haben wir sie. Aber nicht mehr lange. Die Frage die ich mir stelle ist: Sind wir bereit, den Schatz an Erfahrungen und Lebensweisheit, den diese Menschen mit sich tragen, für uns und unsere Kinder mitzunehmen? Wollen wir noch lernen von den Alten? Wollen wir ihre Geschichten noch hören? Oder schneiden wir uns ab von dem, was sie uns zu unserem eigenen Wohl mitgeben könnten?

Vielleicht täte es uns allen gut, mit den ständigen Streitereien und dem ständigen aufeinander Einprügeln mit Argumenten aufzuhören, und uns stattdessen einfach einmal hinzusetzen, und uns die Geschichten der Alten anzuhören. Fragen wir sie doch einmal, wie sie die Zeit ohne moderne Medizin erlebt haben. Ich hatte das Glück, die Möglichkeit dazu zu haben. Das hat mich nicht zu einem unkritischen Befürworter der modernen Medizin gemacht. Die Alten wissen nämlich auch, wie viel besser es war, als Ärzte noch Zeit hatten für ihre PatientInnen, und es noch keinen Kostendruck gab, der zum heutigen Schnell-Schnell führte. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite habe ich aber auch gelernt, dass das, was heute von Kritikern als schreckliche Folgen „chemischer Keulen“ dargestellt wird, ein sehr geringer Preis ist für das, was wir an Gutem durch diese Medikamente gewonnen haben. Oder, um auf meine Mutter zurückzukommen: Sie hätte den Preis des im schlimmsten Fall auftretenden Durchfalles durch Antibiotika sehr gerne schon viel früher auf sich genommen, wenn ihr dadurch der Gehörverlust und die jährlichen heftigen Schmerzen der immer wiederkehrenden Mittelohrentzündung erspart geblieben wären.